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Der Philosoph Dieter Henrich wird 75  
  Dieter Henrich gilt als herausragender Vertreter der klassischen deutschen Philosophie. Der Hölderlin-Preisträger von 1995 versteht sich aber auch als Analytiker und Historiker seiner Disziplin, der versucht, bestehende Denksysteme auszuloten und als Theorieentwürfe weiterzuentwickeln.  
Distanz zur zeitgenössischen Philosophie

Dieter Henrich 1998
"Als Erfinder einer philosophischen Position nehme ich mich gar nicht wahr" - so lautet das Motto von Dieter Henrich, der in Deutschland zu den bedeutendsten Philosophen der Gegenwart zählt.

Henrich distanziert sich von der Philosophie des 20. Jahrhunderts und entfaltet großangelegte Studien über den deutschen Idealismus.

Er sieht sich als Philosophiehistoriker, der sich nicht damit begnügt, philosophische Denksysteme zu katalogisieren. Henrich sieht diese Denksysteme bloß als Entwürfe, als "Theoriepotentiale" an, die er versucht produktiv weiter zu denken, sie besser zu verstehen, als es die entsprechenden Philosophen selbst vermochten.
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Zur Person Dieter Henrich
Dieter Henrich wurde am 5.1.1927 in Marburg geboren, promovierte in Heidelberg und habilitierte sich 1965 mit der Schrift "Selbstbewußtsein und Sittlichkeit", die programmatisch für Henrichs weiteres Schaffen ist. Henrich lehrte an der Freien Universität Berlin, in Heidelberg und München, nahm zahlreiche Gastprofessuren in den Vereinigten Staaten wahr, war Mitglied der renommierten interdisziplinären Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik" und widmet sich seit seiner Emeritierung seinen Studien der Zeit des deutschen Idealismus. "Wenn ich mich frage, was in 100 Jahren von mir übrigbleibt", meint der öffentlichkeitsscheue, nicht ganz uneitle Philosoph, "dann ist es die Erforschung der klassischen deutschen Tradition".
->   Mehr über Dieter Henrich
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"Argumentanalytische" Argumentation
Seine philosophische Vorgangsweise bezeichnet Henrich als "argumentanalytische Argumentation", die er dem wissenschaftlichen Vokabular des "Wiener Kreises" verdankt.

Darunter versteht Henrich eine philosophische Strategie, die Denkmotive unterschiedlicher Philosophen aufnimmt und in Problemformulierungen übersetzt, die von einem zeitgenössischen Wissensstand aus als legitime wissenschaftliche Fragen akzeptiert werden können.
Interpretationen der Meisterdenker
Henrich interpretiert vornehmlich die Werke von Kant, Fichte und Hegel, die für ihn neben Platon die unangefochtenen "Meisterdenker" darstellen. Er versucht, die Dynamik ihrer Grundgedanken in eigener Argumentation mitzuvollziehen und zu überprüfen, wie weit diese Thesen für die heutige Philosophie interessant, haltbar oder revisionsbedürftig sind.
Gegen eine Fundamentalphilosophie
Als Fundamentalphilosophie versteht Henrich jeden Denkentwurf, der den Anspruch hat, die Phänomene der Welt von einem einzigen Gesichtspunkt her erklären zu wollen. Er wendet sich gegen die Formulierung einer Letztbegründung, die alle Sachverhalte von einem Prinzip her interpretiert.

Henrich geht vielmehr von der These aus, dass "große Philosophie" im Sinne von Platon, Kant oder Hegel die Komplexität der Welt darstellt, ohne voreilige Deutungsmuster anzubieten.
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Relationen zwischen einzelnen Denkgebäuden ...
Philosophieren bedeutet auch, Relationen zwischen den einzelnen Denkgebäuden herzustellen, um eine bestimmte Problematik wie "Selbstbewusstsein" oder "Sittlichkeit" besser verstehen zu können. Henrich spricht von einer "vieldimensionalen Theorie", die imstande sein muss, gegenläufige, einander widersprechende Theorien in einen Zusammenhang zu bringen.
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Vorurteilsloses Philosophieren
Als gelungenes Beispiel dafür nennt Henrich Hegels Darstellung der Philosophiegeschichte, in der er die Vielzahl der unterschiedlichen philosophischen Konzeptionen zu erschließen versucht.

So erweist sich das Fehlen einer fundamentalphilosophischen Position, die Henrich oft zum Vorwurf gemacht wurde, als Grundvoraussetzung für ein vorurteilsloses Philosophieren.
Hauptthema 1: "Subjektivität"
Als Hauptaufgabe der Philosophie sieht Henrich die Beschreibung der menschlichen Subjektivität; also die Fähigkeit, die durch viele Gegensätze geprägte Situation des menschlichen Lebens zu erkennen und verständlich zu machen.

Es geht ihm um die Freilegung der wirklichen Lebensbewegung, um einen Lebensvollzug, der von der Rationalität geleitet wird. "Die Bewegung des gelebten, aber von Gedanken durchzogenen Lebens zu verstehen" - so Henrich in einem Interview - "ist die vornehmste Pflicht der Philosophie".
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Subjektivität - "größte Illusion unserer Zeit"
Die Problematik der Subjektivität, die Reflexion über das Wissen, das ich von mir selbst habe, beschäftigte Henrich seit den frühen Studienjahren. Subjektivität war damals nicht sehr gefragt. Heidegger bezichtigte sie der "Seinsvergessenheit", Marxisten sahen sie als "bürgerliche Kategorie" und Nietzsche bezeichnete sie als "größte Illusion unserer Zeit".
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Selbsterhaltung als zentraler Begriff
Henrich - der philosophische Einzelkämpfer - entfaltete, angeregt durch intensive Studien der idealistischen Philosophie eine Neuformulierung der Subjektivitätstheorie: er stellte den Begriff der Selbsterhaltung in den Mittelpunkt seiner Überlegungen.
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Selbstermächtigung kontra Selbsterhaltung
Bisher ging es immer um Selbstermächtigung, verstanden als Herrschaft über sich selbst, die das Subjekt gleichsam als uneinnehmbare Festung betrachtete Selbsterhaltung hingegen geht von der Fragilität des menschlichen Lebens aus, von der Bedrohung durch Krankheit, Leid oder Tod.
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"Überleben ist alles ..."
Selbsterhaltung ist zu verstehen im Sinne von Rilke: "Wer spricht von Siegen, Überstehen ist alles." Das Subjekt, das seine Subjektivität als Selbsterhaltung versteht, ist sich bewusst, niemals über sich selbst verfügen zu können; gesucht wird dennoch etwas wie eine umfassende Geborgenheit, die ein Gefühl des Vertrauten vermittelt.
Hauptthema 2: "Selbstbewusstsein"
Anknüpfend an Kant und Fichte sieht Henrich im Selbstbewusstsein den unhintergehbaren Grund aller Weltbeziehung.

Im Gegensatz zu diesen Denkern, die das Selbstbewusstsein als Selbstverhältnis denken, also als eine Subjekt-Objekt-Beziehung beschreiben, geht Henrich aber davon aus, dass dem Selbstbewusstsein keinerlei Beziehung zugrundeliegt.
In Paradoxien verstrickt
Nach jahrzehntelangen Studien, die oft revidiert oder gar verworfen wurden, kommt Henrich zu dem Schluss, dass das Selbstbewusstsein nicht als Selbstverhältnis vorzustellen und auch nicht analysierbar ist.

Wir stehen zwar im Wissen von uns selbst, meint Henrich, aber wenn wir auslegen wollen, worin dieses Wissen besteht, werden wir notwendig in Paradoxien verstrickt.
Postmoderne Erkenntnis
Diese These, die besagt, dass das Selbstbewusstsein nicht Urheber seiner selbst ist, nicht mehr "Herr im eigenen Haus", korrespondiert auch mit Erkenntnissen der Postmoderne, die das Selbstbewusstsein nur als Ensemble von Intensitätszonen bezeichnen.

Nikolaus Halmer, Ö1- Wissenschaft
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Dieter Henrich - Bibliographie
Hegel im Kontextt, Suhrkamp Verlag
Fluchtlinien, Suhrkamp Verlag
Konstellationen, Klett Cotta Verlag
Der Grund im Bewusstsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken, Klett Cotta
Versuch über Kunst und Leben, Hanser
Selbstverhältnisse, Reclam
->   Online-Texte von Dieter Henrich
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01.01.2010