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NS-Volkskunde und Fotografie in Südtirol  
  In den Jahren 1940-41 wurden von Volkskundlern und Fotografen im Auftrag des "SS-Ahnenerbes" Bilder der Südtiroler Volkskultur aufgenommen. Vor der geplanten Umsiedelung der deutschsprachigen Bevölkerung in das "Reich", die das Hitler-Mussolini-Abkommen (1939) vorsah, sollte die gesamte Alltagskultur dokumentiert werden: Ein kleines Lehrstück der Wissenschaftsgeschichte und der Fotoästhetik.  
Behauptung germanischer "Kulturhomogenität"

Einer dieser Wissenschaftler war der Wiener Volkskundler Richard Wolfram (1901-1995), der als eine zentrale Gestalt der österreichischen Volkskunde gilt. Seine Arbeiten sind von der Vorstellung geprägt, germanisches Brauchtum mit seinen archaischen Wurzeln aufzustöbern, um dadurch germanische Kulturhomogenität und Kontinuität zu belegen.

Einen Teil seiner Fragebögen, Filme und Glasplatten hinterließ Wolfram dem Institut für Volkskunde der Universität Wien (heute: Institut für Europäische Ethnologie), sowie dem Landsinstitut für Volkskunde in Salzburg. Heute belegen diese Aufnahmen die Rolle der Fotografie für die Volkskunde und Ästhetik des Nationalsozialismus.

Die Wiener Bestände liegen nun in einem Katalog kommentiert vor. Auch die neue Ausgabe der Zeitschrift "Fotogeschichte" beschäftigt sich mit dem politisch-gesellschaftlichen Kontext der "völkischen Feldforschung". Beide Publikationen beleuchten ein aufschlussreiches Kapitel ideologielastiger Wissenschaftsproduktion, die sich des Mediums Fotografie bediente.
Bildwelten des Nationalsozialismus

Garbentragen, Sarntal
Wie dieses Beispiel zeigt, lässt sich die volkskundliche Fotografie aber nicht pauschal der nationalsozialistischen Bildwelt zuschlagen. Die fotografische und filmische Faszination der ländlichen Welt äußert sich in den 30er Jahren auch in anderen Ländern und politischen Systemen. Charakteristische Motive aus ihrem Repertoire finden sich bis heute in der Fotoästhetik, zum Beispiel in der Fremdenverkehrswerbung.

Nicht zuletzt aber bietet sich hier genügend Stoff für eine differenzierte Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Disziplin der Volkskunde, die trotz der Umbenennung in "Europäische Ethnologie" ihre komplexen historischen Wurzeln nicht verleugnen kann.
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Podiumsdiskussion
Am 15. Jänner findet im Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien anlässlich des Erscheinens der "Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie" (Heft 82; Jg. 21, Dez. 2001) eine Podiumsdiskussion zum Thema "Völkische Feldforschung. Fotografie und Volkskunde im Nationalsozialismus" statt.
Ort: 1010 Wien, Hanuschgasse 2/s.Stock. Zeit: 18.00 Uhr
->   Themenheft "Fotogeschichte"
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Faszination und Mythisierung der ländlichen Welt

Kreuze aus angekohltem Holz fürs Feld, Reischach
Südtirol wurde nach dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918 im Frieden von St. Germain 1919 Italien zugeschlagen. Die deutschsprachige Bevölkerung wurde in der Folge einer staatlichen Italianisierungspolitik unterworfen, die auch Auswirkungen auf die Alltagskultur und das Brauchtum hatte.

Identitätsstiftende Formen wie Trachtenumzüge waren bald nicht mehr gerne gesehen. Mit der Stärkung faschistischer Kräfte im Italien der 20er Jahre wurde der Süditiroler Alltag weiter politisiert, was sich auch im Verbot der Verwendung der deutschen Sprache und den damit verbundenen kulturellen Brauchtumsformen auswirkte.
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Südtirol und das "SS-Ahnenerbe"
Im Pakt zwischen Hitler und Mussolini hatte Hitler auf Gebietsansprüche verzichtet. Rund 86 Prozent der Südtiroler trafen die Wahl - Option genannt - das Land zu verlassen. Mehr als 75.000 gingen bis 1944 tatsächlich. Begleitet wurde dieses großangelegte Projekt der so genannten "Neuordnung der ethnografischen Verhältnisse" von einem Stab von Wissenschaftlern. Sie sollten Südtirols Kultur umfassend erheben und dokumentieren, um sie den Südtirolern nach ihrer "Umvolkung" im Reich maßstabsgetreu "wiedergeben" zu können.

Der Auftraggeber, die Forschungsgemeinschaft Ahnenerbe e.V. wurde bereits 1937 von Heinrich Himmler, Richard Walther Darré sowie Herman Wirth gegründet. Der Verein befasste sich zunächst mit der Erforschung der germanischen Vorgeschichte und der deutschen Volkskunde. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg wandte sich das "Ahnenerbe" mehr den Naturwissenschaften und kriegsbedingten Forschungsaufträgen zu.
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Mythisierung der deutschen Kultur in Südtitol
Das in den 20er Jahren erlassene und später verschärfte Verbot der deutschen Sprache und Kultur in Südtirol gab selbst banalen Formen der Alltagskultur eine neue Bedeutung und verstärkte eine gegen die Unterdrückung gerichtete Symbolik.

Die Alltagskultur wurde durch die Politisierung des Alltäglichen überhöht und kam dadurch der mythenbestimmten Anschauung der Nationalsozialisten entgegen.
Ein großangelegtes Projekt

Richard Wolfram, der erste Professor eines Wiener Universitätsinstituts für "germanisch-deutsche Volkskunde" in Wien(seit 1939), war zugleich Leiter der "Lehr- und Forschungsstätte für germanische Volkskunde" des "SS-Ahnenerbe Heinrich Himmler" in Salzburg.

Er gibt an, 1940/41 an die 6.600 Meter Normalfilm angefertigt zu haben. Davon wurden allerdings bisher nur wenige Teilstücke aufgefunden. Von den Filmen wurden Standfotos abgezogen und an die NS-Organisationen zur Aufbewahrung geschickt.

Wo die Rekonstruktion des Brauchtums vor Ort mit der bäuerlichen Bevölkerung nicht mehr möglich war, wurden "Optanten" (Umsiedler) zur Vorführung organisiert.
Fasching - oder ein Schauspiel voller "Urkraft"?
 


Bär und "Wilder Mann" (Egetmann).

Verkünden des Egetmanns
Wolframs Deutungsversuche des "Traminer Egetmanns", eines Faschingsspiels, gehen in die Richtung einer großen mythologischen Dichtung.

Die Bilder sprechen aber eine ganz andere Sprache. Das ausgelassene Treiben einfach nur als Faschingsspiel anzusehen, hätte die überhöhende Bedeutung unterlaufen, die ihm das SS-Ahnenerbe zuschreiben wollte und daraus ein sinnentleertes Vergnügungsspektakel gemacht - ganz ohne "Urkraft".

Die Bilder vom "Egetmann" belegen aber auch das Diktat der italienischen Verwaltung im Faschismus. Deutschsprachige Bücher durften nicht mehr verwendet werden - oder waren nicht mehr vorhanden: Der "Verkünder" bei diesem deutschen Brauchtumsspiel liest bei seinem Ruf aus einem italienischen Buch mit dem Titel "La Sartotechnica" (das Schneiderhandwerk).
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"Dableiber" und "Optanten"
Mit dem Hitler-Mussolini-Abkommen hatten die Südtiroler die Möglichkeit, zwischen Italianisierung und Germanisierung zu wählen. Die bewusst und gezielt politisierte Entscheidung schuf tiefe Risse in Verwandtschaften und Dorfgemeinschaften, die über Vorwürfe und Sticheleien zwischen "Dableibern" und "Optanten" (die sich für eine Umsiedlung in das Deutsche Reich entschieden) weit hinausgingen. Nicht selten war die Entscheidung für eine Umsiedelung aber auch von wirtschaftlichen Überlegungen bestimmt. Sie bot vor allem für junge Südtiroler Chancen für eine Verbesserung ihrer Situation und war nicht in jedem Fall mit einem bedingungslosen Bekenntnis zum Nationalsozialismus gleichzusetzen. Anhänger des Nationalsozialismus trugen zwar besonders zu den Dissonanzen bei, die Tatsache der faschistischen Unterdrückung Südtirols belegt aber auch, wie schwierig die Situation der Südtiroler war. Sie mussten, wie die Volkskundlerin Elisabeth Köstlin bemerkt, zwischen zwei faschistischen Systemen wählen.
->   Daten zur Südtiroler Geschichte nach 1918
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Merkmale der "Stammeszugehörigkeit"
Ziel der NS-Dokumentation der Südtiroler Volkskultur war es, den Kern bäuerlich-völkischer Stammesgemeinschaft offen zu legen. Was sich für die Italiener in der Kultur Südtirols als rau, unzivilisiert und derb darstellte, galt den Deutschen als ureigenstes Merkmal der "Stammeszugehörigkeit".
Mythische "Mähformen"?

Fünfsternmähen, Corvara-Colfuschg
Die Aufnahme der Mähformen (Fünfsternmähen) in Corvara und im Vintschgau interpretiert der Volkskundler Wolfram als mythische Urformen. Bis heute fehlt allerdings eine wissenschaftliche Bestätigung ihres Vorhandenseins in Südtirol.

Wolfram unterlegt die Bedeutung des Spiralmähens mit heidnischen, zauberkräftigen Bedeutungen. Die Deutung, dass es sich dabei um so etwas banales wie Geschicklichkeitsübungen der Mäher handeln könnte, lässt er nicht gelten.
Poetische Stimmungsbilder

Ackerputzen in Ehrenburg
Ohne Kommentare werden diese Fotos und Filme zu poetischen Stimmungsbildern. Als solche lassen sie sich leicht in den Kontext nationalsozialistischer Programmatik einfügen.

"Mythischen Ideologismus" nennt die Volkskundlerin Elisabeth Köstlin diese Programmatik, die das SS-Ahnenerbe effektvoll zu nutzen versuchte: "Tiroler Mernschen und Tiere eignen sich generell als Träger germanischen Kulturerbes und belegen die Kontinuitätsthese auf einfache, für alle verständliche Weise."
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Richard Wolfram als Fotograf
Wolfram war kein versierter Fotograf, der alle technischen Möglichkeiten ausschöpfte. Sein Material wurde von ihm selbst schriftlich wenig kommentiert und wissenschaftlich nicht besonders systematisch aufgearbeitet. Seine Arbeit entbehrt auch fototheoretischer Konzeptionen, wie sie beispielweise in den 30er Jahren in den Diskussionen über künstlerische und soziale Fotografie entwickelt wurden. Er war wohl eher ein fotografierender Forscher mit der "positivistischen" Überzeugung, durch einen Apparat das Wesentliche einer Kultur einfangen zu können.
->   Mehr über den Volkskundler Richard Wolfram
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Der "Wilde Mann"
 


Die Bilder des "Wilden Mannes" zeigen eine knorrige, bärtige Gestalt. Als das Ahnenerbe 1940 nach Kortsch kam, wo das Gregori-Spiel beheimatet war, gab es bereits kein Manuskript von dieser Aufführung mehr.

Aus den Schilderungen der Bevölkerung erstellt Wolfram eine Regieanweisung für die Aufführung und leitet damit die Leute an, eine Volkskultur zu praktizieren, die es bereits nicht mehr gab.

In seinem Protokoll für das Ahnenerbe vermerkt er: "Bei meinem Aufenthalt in Kortsch versuchte ich, aus dem Munde der ältesten, noch lebenden Gewährsleute zu erfragen, was noch von dem Spiel in Erinnerung war". Der Volkskundler wird hier definitiv zum Mythenerzähler.
Almabtrieb mit Nachwirkungen
 


Die "kulturanthropologische Objektfotografie" rückt Abbildungen von Arbeitsvorgängen, Objekten und Details von bäuerlichen Arbeiten in den Vordergrund.

Heu tragende Bauern oder die Bilder vom Almabtrieb in Mühlbach: Sie würden in jedes moderne Magazin passen und sind nicht pauschal einer NS-Ästhetik zuzuschreiben. Das politische Programm, das hinter dem dokumentarischen Unternehmen wirkt, wird ohne Kommentar nicht sichtbar.
Paradoxe Wirkung der Bilder
Für den heutigen Betrachter erscheint die Wirkung dieser Aufnahmen paradox: Sie sind im dokumentarischen Sinne "wahr", wirken aber gleichzeitig schön, ja teilweise romantisch, was sich nicht nur auf den ideologischen Kontext ihrer Instrumentalisierung zurückführen lässt.

Die Bilder der Bauern beim Almabtrieb mit bekränzten Kühen unterscheiden sich vielleicht nur in der etwas antiquierten Alltagskleidung von nostalgisch inszenierten TV-Spots der Fremdenverkehrswerbung der Gegenwart. Das Bild als mehrdeutiges Dokument erzählt auch hier - von sich aus - nicht seine ganze Geschichte.
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Nachwirkung und Nachlese
Die "Lehr- und Forschungsstätte für germanische Volkskunde" des "SS-Ahnenerbe Heinrich Himmler" in Salzburg wurde 1945 ebenso aufgelöst, wie das Wiener Universitätsinstitut für "germanisch-deutsche Volkskunde". Wolfram verlor seine Lehrbefugnis, die er 1954 wiedererlangte. 1961 wurde er zum ordentlichen Mitglied der österreichischen Akademie der Wissenschaften ernannt. Bis zu seiner Emeritierung 1971/72 war er Vorstand des Instituts für vergleichende europäische Volkskunde der Universität Wien - "eine der zentralen Gestalten der österreichischen Volkskunde" (Konrad Köstlin).

Der Katalog mit einer Auswahl seiner Südiroler Fotografien ist herausgegeben und kommentiert von Elisabeth Köstlin und Andreas Schleicher unter dem Titel "das volkskundliche foto:südtirol 1940/41. realität/wirklichkeit/poesie" in der Verlagsanstalt Athesia, Bozen erschienen.
->   Institut für Europäische Ethnologie, Wien - Institutsgeschichte
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->   Salzburger Landesinstitut für Volkskunde: Aufarbeitung des Wolfram-Nachlasses
 
 
 
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01.01.2010