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Ein "Holocaust-Erinnerungsort" in Europa: Die Villa-Marlier
Ein Gastbeitrag von Oliver Rathkolb
 
  Seitdem das US-Anklageteam bei dem Nürnberger "Wilhelmstraßen-Prozess" gegen leitende Ministerialbeamte der NS-Bürokratie das Ergebnis-Protokoll der interministeriellen Besprechung vom 20, Jänner 1942 über die "Endlösung der Judenfrage" im damaligen Gästehaus der SS Am Großen Wannsee 1947 entdeckt und 1948 vorgelegte hatte, kreist die wissenschaftliche und öffentliche Diskussion bezüglich der Entscheidung für den Holocaust um dieses Dokument.  
Der Inhalt des Protokolls, dessen einziges bisher gefundenes Original im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes aufbewahrt wird, ist insofern klar, als dass 15 zentrale Repräsentanten der deutschen Ministerialbürokratie und der SS, Details der organisatorischen Durchführung der systematischen Ermordung aller Juden Europas durch Deportation und "Vernichtung" im "Osten" in der Idylle dieser Villa besprachen, die von dem Berliner Zahnpastafabrikanten Ernst Marlier 1914 erbaut worden war.
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Oliver Rathkolb
ist Univ.-Doz, Universität Wien. Dr. iur., Dr. phil., Zeithistoriker, wissenschaftlicher Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Geschichte und Gesellschaft, Wien sowie der Internetplattform www.whoisaustria.org. Forschungs- und
Publikationsschwerpunkte: Geschichte des 20. Jahrhunderts.
->   Demokratiezentrum Wien
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Echtheit zunächst in Frage gestellt...
Unprofessionelle Editionen dieses Schlüsseldokuments aus den 1960er Jahren nützten Holocaust-Leugner und seither zahlreiche andere "Revisionisten", um die Echtheit des Dokuments in Frage zu stellen, mit der völlig abwegigen Vorstellung, dass sich Planung und Durchführung des Holocaust auf ein einziges Dokument reduzieren ließe.
...mittlerweile eindeutig festgestellt
Inzwischen wurden längst nicht nur die Echtheit des Protokolls eindeutig festgestellt, sondern die vielschichtigen Entscheidungs- und Durchführungsprozesse bei der Ermordung der europäischen Juden in allen europäischen Ländern, zunehmend auch in den von Deutschland besetzten Ländern wie Polen und der Sowjetunion rekonstruiert und analysiert - von höchsten und hohen Entscheidungsträgerebenen bis hin zur Mikroebene der durchführenden Täter.

Während der "revisionistische" Diskurs um die "Echtheit" der "Endlösung der Judenfrage" langsam abebbt, aber keineswegs aufhört, bleibt die wissenschaftliche Diskussion über die Bedeutung des Treffens in Bewegung.
Nur ein administrativer Schritt?
Yehuda Bauer von der Hebräischen Universität in Jerusalem sieht in der Konferenz nur einen administrativen "Schritt" in den Planungen und Umsetzungen zur Vernichtung des europäischen Judentums durch das NS-Regime, wohingegen andere Forscher in die Richtung argumentieren, dass mit dem Angriff auf die Sowjetunion längst die Entscheidungen getroffen und nur mehr im nachhinein akkordiert und weitergeführt wurden.

Götz Aly, ein Deutscher Holocaustforscher aus Berlin, räumt diesem Treffen in der ehemaligen Industriellen-Villa jedoch zuletzt einen höheren Stellenwert zu, weist aber zurecht anhand der unterschiedlichen nationalen "Mordraten" in der Statistik des Grauens auf die unterschiedlichen Umsetzungen und Durchführung des Massenmordes in Europa hin.
Keine öffentliche Diskussion
Spätestens mit dem 50. Jahrestag der Wannseekonferenz hat jedoch das Haus und Ereignis eine völlig neue öffentliche Dimension bekommen, die zwar 1965 bereits von einem der wenigen Holocaust-Forscher der 1960er Jahre, Joseph Wulf, angedacht wurde, aber im Kalten Krieg und dem Desinteresse an tiefgehender öffentlicher Auseinandersetzung mit dem NS-Verbrechen scheiterten und keine Resonanz gefunden hat.
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Eine Wand des Schweigens
Wulf, dessen Dokumentationen über die NS-Zeit bis heute Verwendung finden, konnte die Wand des Schweigens der 1960er Jahre nicht durchbrechen, und nahm sich 1974 nach dem Tod seiner Frau das Leben. Der Berliner Senat war nicht bereit gewesen, trotz einer finanziellen Zusage des Präsidenten des World Jewish Congress, Nahum Goldmann, Wulfs Projekt eines Internationalen Dokumentationszentrums zur Erforschung des Nationalsozialismus und dessen Folgen, mitzutragen. Auch die damalige deutsche Academic Community grenzte Wulfs Ansätze und Arbeiten vielfach als unwissenschaftlich aus, obwohl er zu den Pionieren der Quellenforschung- und -edition gehörte.
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Neubeginn der öffentlichen Diskussion
Erst Ende der 1970er Jahre wurde die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus als Zivilisationsbruch und eklatante Menschenrechtsverletzung von den USA ausgehend neu belebt. Auch in Deutschland hatte die politische Bereitschaft, die wissenschaftliche und gesellschaftliche Breitenwirkung der Reflexion über das Genozid an 6 Millionen Juden und Jüdinnen, aber auch die Stigmatisierung, Verfolgung und Ermordung anderer Opfergruppen und von Kriegsverbrechen im II. Weltkrieg permanent zu diskutieren, Mitte der 1980er konkrete Auswirkungen.

1986 beschloss der Berliner Senat für 1992 die Einrichtung einer "Gedenk- und Bildungsstätte" und Wulfs Ideen wurden von dem Trägerverein des Hauses, "Erinnern für die Zukunft" offen aufgenommen.
"Erinnern" in Österreich
Fast gleichzeitig toste hingegen in Österreich die Debatte über den "fragmentarischen" öffentlichen Umgang des Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim über seine Kriegsvergangenheit und in weitere Folge über die NS-Vergangenheit der österreichischen Gesellschaft, eine Debatte, die 1986 in der Bundesrepublik bereits auf einer deutlich höheren, klar bekennenden Bewusstseinsebene - trotz mancher "Rückfälle" in die sechziger Jahre - geführt wurde.
Wannseekonferenz als globale Chiffre
Die mediale Umsetzung des 50. Jahrestages der "Wannseekonferenz" 1992 fokussierte bereits völlig auf der Wannseekonferenz als "der" Entscheidung für den Holocaust, eine höchst reduktionistische Darstellung, der durch die Einrichtung des "Hauses der Wannsee-Konferenz" und einer, von dort aus moderierten, permanenten wissenschaftlichen und öffentlichen Arbeit an dem Gesamtthema entgegengewirkt wurde.

Gleichzeitig war nicht mehr zu übersehen, dass die "Wannseekonferenz" längst eine globale Chiffre, ein globaler Erinnerungsort geworden ist, der über alle verfügbaren Medien zu Jahrestagen bespielt und interpretiert wird.
Wissenschaftliche Aspekte nur mehr im Hintergrund
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung spielt dabei nur mehr eine Türsteherrolle. So wurde 2001 unter anderem ein von HBO und BBC Films, Regie Frank Pierson, ein zwei Stunden Spielfilm, "Conspiracy" entlang des "Wannsee-Protokolls" gedreht, mit der typischen, aber letztlich notwendigen Filmdramaturgie und manchmal daraus resultierenden Klischeebildungen (inklusive einem rührseligen Franz Schubert Streichquartett als Hintergrundmusik).

Von der Breitenwirkung her gesehen, ist der inzwischen auch ausgezeichnete Fernsehfilm eine relativ erfolgreiche Produktion, die nicht wegdiskutiert werden kann. Ältere deutsch-österreichische Fernsehfilm-Co-Produktionen entstanden bereits in den 1980er Jahren.
Akademischen und architektonischen Grenzen gesprengt
Vielfältig und tiefgehend hingegen sind die diesjährigen Bildungs- und Kulturveranstaltungen in Berlin, mit einer Holocaust-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum, aber auch mit einem kulturellen Programm, durch das für jüngere BesucherInnenschichten das Thema Holocaust nähergebracht werden soll, um Akzeptanz - und Wissensbarrieren zu überwinden.

Der Globale Gedächtnisort "Wannseekonferenz" hat seine akademischen und architektonischen Grenzen gesprengt, die Villa Marlier ist längst zur "Villa Wannsee" geworden, ein internationaler Gedächtnisort in der Topographie des Schreckens in Europa
Mehr Information über dieses Thema finden sie in science.orf.at unter:
->   Wannsee-Konferenz: Die Planung des Holocaust
 
 
 
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01.01.2010