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Französischer Soziologe Pierre Bourdieu gestorben  
  Pierre Bourdieu galt als wichtigster Soziologe der Gegenwart. Themen wie die gesellschaftliche Bestimmtheit unseres Handelns und die Manifestationen sozialer Unterschiede im Alltag verknüpfte der französische Intellektuelle mit leidenschaftlichem politischen Engagement. Am Mittwochabend starb Bourdieu im Alter von 71 Jahren in Paris.  
Soziale Bestimmung unseres Handelns
Bourdieu nannte sich selbst einen "strukturalistischen Konstruktivisten" bzw. einen "konstruktivistischen Strukturalisten". Er betonte immer wieder, dass es für ihn in der sozialen Welt objektive Strukturen gibt, die in der Lage sind, das, was wir tun und denken, zu leiten und zu begrenzen.

Unsere Wahrnehmungen, unser Denken und Handeln ist sozial bestimmt und prägt unseren so genannten "Habitus". "Die soziale Welt ist weitaus starrer, unbeweglicher, als allgemein gesagt wird", so Bourdieu.
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Felder und verschiedene Kapitalsorten
Die soziale Welt besteht nach Bourdieu aus verschiedenen Feldern: z. B. Wissenschaft, Kunst und Wirtschaft. Innerhalb dieser Felder handeln die Menschen nach unterschiedlichen Regeln; verschiedene Handlungsressourcen, Bourdieu nennt sie "Kapital", stehen ihnen in dem sozialen Spiel zur Verfügung: ökonomisches (Vermögen), kulturelles (Dispositionen, Fertigkeiten, Titel), soziales (Netzwerke, Beziehungen zu Menschen) und symbolisches Kapital (Ruf, Ehre, Anerkennung).
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Mechanistisches Gesellschaftsbild?
Kritiker warfen Bourdieu deshalb oft eine zu starre, antiindividualistische und teils gar mechanistische Auffassung von Gesellschaft vor. Begriffe wie "blinder Mechanismus des Kapitals" und "Schicksalsmacht der Verhältnisse" würden ihrer Ansicht nach der Subjekthaftigkeit des Menschen nicht gerecht.

Bourdieus gesamtes Wirken, sein soziales Engagement und - wie das folgende Zitat beweist - auch seine Wissenschaft stehen dem freilich entgegen - und verorten sein Projekt als ein eindeutig aufklärerisches: Die Soziologie, so Bourdieu, biete "das vielleicht einzige Mittel, und sei es auch nur über das Bewusstsein der Determiniertheiten, dazu beizutragen, etwas wie ein Subjekt zu konstituieren, eine Aufgabe, die sonst den Kräften der Welt anheimfällt." (Sozialer Sinn, 1980)
"Praxeologische Theorie der Praxis"
Eine wirkliche Theorie der Praxis, so Bourdieu, müsste idealerweise in der Lage sein, gleichzeitig die unserem Handeln objektiv zu Grunde liegenden Strukturen und das Bild, das wir uns subjektiv, von uns und der uns umgebenden Welt machen, zu erfassen. Diese Art "allgemeine Anthropologie" wurde von ihm Zeit seines Lebens weiterentwickelt.

Seine wissenschaftliche Arbeit begann Bourdieu Ende der 1950er Jahre mit einer Studie zu Algerien, welche die Grundlage für seine später formulierte "praxeologische Theorie der Praxis" bildete.

Diese Theorie bezeichnete er einmal als "Mittel, um der Alternative zwischen Materialismus und Idealismus zu entgehen, indem sie dem positivistischen Materialismus entgegenhält, dass ihre Gegenstände konstruiert sind, dem intellektualistischen Idealismus dagegen, dass das Prinzip dieser Konstruktion die praktische, auf praktische Funktionen ausgerichtete Tätigkeit ist" (Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 412).
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Bild: APA

Pierre Bourdieu 2000 in Wien
Kurzbiografie
Bourdieu wurde am 1. August 1930 in der südwestfranzösischen Stadt Denguin geboren.

Nach dem Studium der Philosophie an der Elitehochschule "Ecole normale superieure" in Paris arbeitete er zunächst als Lehrer, bevor er 1958 wissenschaftlicher Assistent an der philosophischen Fakultät in Algier wurde.

Später lehrte er in Paris, dann in Lille. Ab 1981 war er Professor und Inhaber eines Lehrstuhls für Soziologie am renommierten "College de France".
->   Hyperbourdieu: Bibliografie und Mediendokumentation
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Die feinen Unterschiede
Im deutschsprachigen Raum bekannt wurde Bourdieu durch seine Studie "Die feinen Unterschiede" (Dt. 1982), die der kulturellen Reproduktion sozialer Ungleichheit gewidmet ist. Dabei entschlüsselte er die Kultur des Geschmacks und erklärte die Funktionsmechanismen des klassenspezifischen "Habitus".

Unter Habitus verstand er jene Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, die die Praktiken des Geschmacks und des Lebensstils (z.B. Essvorlieben, Freizeitgestaltung, Schönheitsideale) organisieren. Dieses System ist eng mit der sozialen Position der Person verbunden und markiert den Abstand zur nächsttieferen Klasse.
->   Sozialer Raum und Klassenhabitus
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Bourdieu als Fotograf
Einer eher unbekannten Facette des Werkes von Bourdieu widmete sich im Oktober 2001 die Fotografiezeitschrift "Camera Austria": Der Soziologe bediente sich während seiner ethnologischen Forschungsarbeiten in Algerien während der 50er und 60er Jahre systematisch der Fotografie. Beispiele davon waren in der Zeitschrift zu sehen. Science.orf.at-Mitarbeiterin Cathren Müller führte damals ein Interview mit Pierre Bourdieu.
->   Das Interview mit Pierre Bourdieu (Camera Austria)
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Soziales und politisches Engagement ...
In den letzten Jahren machte Bourdieu verstärkt durch sein politisches Engagement auf sich aufmerksam: als Mitbegründer der globalisierungskritischen Organisation ATTAC und als Proponent der Initiative "Raisons d'agir", eines Netzwerks europäischer sozialer Bewegungen, das den Neoliberalismus kritisiert und sich für die Schaffung einer europäischen Sozialcharta ausspricht.
->   Raisons d'agir
->   ATTAC
... verknüpft mit Wissenschaft
In seinem Bestseller "La misere du monde" porträtierten Bourdieu und Kollegen 1993 das Elend der Entrechteten der Modernisierung. Auf die Frage, wer für die Verelendung der Welt verantwortlich ist, gab er eine eindeutige Antwort: der "Neoliberalismus".

Seit seinem Auftritt im französischen Streikwinter 1995, der ganz Frankreich erschütterte, und dem 1998 in der französischen Tageszeitung "Le Monde" veröffentlichten Manifest "Für eine Linke links der Linken", in dem er die Linksregierung einer rechten Politik beschuldigte, war er zum Inbegriff einer engagierten Soziologie geworden.
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"Die Intellektuellen und die Macht"
Weitere Schwerpunkte in der wissenschaftlichen Laufbahn Bourdieus, in der die Analyse von Herrschaftsstrukturen und -logiken immer im Mittelpunkt standen, waren: die eigene Berufsgilde, die 1991 in "Die Intellektuellen und die Macht" kritisiert wurde; das Bildungssystem, das auf formaler Gleichheit aufbauend stets soziale Ungleichheiten reproduziert (zuletzt: "Wie die Kultur zum Bauern kommt"), Medien- und Kunstkritik ("Über das Fernsehen", "Regeln der Kunst",) und zuletzt auch Fragen des Geschlechterverhältnisses ("La domination masculine").
->   Bourdieu: Für ein Österreich als Vorreiter des sozialen Europas
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Antwort auf Neoliberal: Sozial
In einem APA-Interview im November 2000 nahm Bourdieu auch zu politischen Themen Stellung, die in Österreich derzeit wieder heiß diskutiert werden. Auf die Frage, ob die Diskussion über die EU-Erweiterung mehr den sozialen Bewegungen oder eher den nationalistischen Strömungen Auftrieb geben werde, antwortete Bourdieu:

"Die beste Antwort auf den Rechtspopulismus wäre es, wenn Europa wirklich sozial wäre. Aber weil sich die neoliberalen Tendenzen überall verstärken, kommt es nicht dazu. Es gibt auch einen Neoliberalismus im sozialdemokratischen Gewande, denn die sozialdemokratischen Regierungen Europas tragen ja genau diese Politik mit."

Lukas Wieselberg, science.orf.at
Mehr zu Pierre Bourdieu in science.orf.at:
->   Zum Tod Bourdieus: Kommentar seines Übersetzers
->   Bildung: Wie Gleichheit Ungleichheit fördert
 
 
 
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01.01.2010