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Flucht in die Kältestarre  
  Nicht nur Murmeltiere, Igel oder Siebenschläfer halten in der kalten Jahreszeit ihren Winterschlaf. Auch das Rotwild hat ähnliche Überlebensstrategien. Die Tiere senken in Notzeiten ihre Körpertemperatur ab und sparen in der künstlichen Kältestarre Energie.  
Wie unsere heimischen Wildtiere - Hirsche, Rehe, Gämsen, Steinböcke - die harten Winter in den Hochalpen überstehen, ist bis heute im Grunde ein Rätsel. Trotz jahrzehntelanger Forschung hatte die Wildtierbiologie bisher keine wirklich überzeugende Erklärung gefunden, wie diese Tiere mit der extremen Witterung, der Kälte und dem knappen Nahrungsangebot fertig werden.
Beobachtungen in freier Wildbahn
Mit Hilfe moderner Biotelemetrik gelange es Wissenschaftlern der Veterinärmedizinischen Hochschule in Wien die Wildtiere erstmals während der Wintermonate in freier Wildbahn zu beobachten.

Mittels Funkübertragung wurden über Tausende Kilometer hinweg Pulsschlag, Blutdruck und Hirnaktivität der Tiere überwacht.
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Biotelemetrie
Ein miniaturisierter, in Höhe des Brustbeines implantierter Sender misst dabei die Herzschlagfrequenz, die die Stoffwechselaktivität widerspiegelt. Der Sender ist wesentlich kleiner als ein Herzschrittmacher und beeinträchtigt die Tiere in keiner Weise. Neben der Herzschlagfrequenz wird auch die Körpertemperatur gemessen. Das Implantat sendet beide Informationen mit geringer Sendeleistung an einen Empfänger im Halsband, das der Hirsch trägt.

Dort wird es verstärkt und zusammen mit einer weiteren Information über Bewegungen des Tieres und die Halsstellung an eine automatische Empfangsstation gesendet, in der die Daten aufgezeichnet werden. Das System kann ohne Wartung und Batteriewechsel bis zu drei Jahre arbeiten und ermöglicht neben der Langzeitmessung physiologischer Kennwerte auch eine ziemlich genaue Abschätzung der Aktivität und der mit Nahrungsaufnahme verbrachten Zeit.
->   Forschungsinstitut für Wildtierkunde und Ökologie, VetMed
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Ein Beobachtungszeitraum von fünf Jahren
Um die Ursachen und das Ausmaß der winterlichen Abnahme des Energiebedarfes von Rotwild zu erforschen, untersuchten die Wiener Wildtierbiologen mit diesem Telemetriesystem über fünf Jahre lang vier Hirsche und fünf weibliche Tiere in einem 35 Hektar großen Forschungsgatter.

Insgesamt wurden ca. 8,5 Millionen Minutenmittelwerte von Herzschlagfrequenz, Unterhauttemperatur und Aktivität aufgezeichnet: der bisher umfangreichste Datensatz zur jahreszeitlichen Anpassung von Wildtieren.
Überraschende Ergebnisse
Aus den kontinuierlich aufgezeichneten Telemetriedaten ließen sich mit großer Genauigkeit die physiologischen Veränderungen bestimmen, denen Rotwild im Jahresverlauf unterworfen ist.

Ein völlig neuer und unerwarteter Befund ergab sich aus der Auswertung der Körpertemperatur: Rothirsche sind in der Lage, in der Notzeit die Energieaufwendungen für die Wärmeregulation zu senken, im Prinzip genauso wie winterschlafende Tiere.
Flucht in die Kältestarre
Die Körpertemperaturmessungen zeigten, dass die Tiere die Gliedmaßen und äußeren Teile des Rumpfes, über die Wärme an die kalte Umgebung verloren wird, offensichtlich weniger durchbluten und so die Wärmeproduktion auf Sparflamme zurückfahren können.

In Folge dessen kühlt das Rotwild in den äußeren Körperteilen stark aus - dies auch in der dem Körperkern relativ nahe gelegenen Brustbeinregion noch auf bis zu 15 Grad Celsius. Die untersuchten Hirsche waren in diesen Phasen auch weniger aktiv, vermutlich weil man mit "klammen" Beinen nicht besonders gut laufen kann.
"Sommerwild" und "Winterwild"
An der Pulsrate war zu sehen, dass der Gesamtenergieverbrauch der untersuchten Tiere im späten Winter auf etwa 40 Prozent des Jahreshöchstwertes sank, der nach einem raschen Anstieg im April und Mai Anfang Juni erreicht wurde.

Insgesamt waren die jahreszeitlichen Veränderungen bei den untersuchten Tieren im Energieverbrauch so groß, dass die energetischen Auswirkungen von Brunft, also Paarungszeit, Trag- oder Säugezeit nicht mehr besonders auffielen.
Nächtliches Sparprogramm
Der jahreszeitliche Verlauf der Unterhauttemperatur deutet darauf hin, dass diese Energiesparmaßnahme hauptsächlich dann erfolgt, wenn widrige Wetterverhältnisse und zur Neige gehende Körperfettreserven zusammentreffen, was nur im Spätwinter der Fall ist. Niedrige Lufttemperaturen alleine lösten sie nicht aus.

Die genaue Analyse einzelner Winternächte zeigte, dass die Abnahme der Wärmeproduktion im Körper unmittelbar den Energieverbrauch drosselte. Je geringer die äußere Körpertemperatur der Hirsche wurde, desto mehr ging die Pulsrate zurück
Winterschlaf in Raten
Der Unterschied zu echten Winterschläfern, wie den Murmeltieren, besteht beim überwinternden Rotwild lediglich darin, dass die Tiere nicht über Tage hinweg, sondern nur bis zu 8-9 Stunden lang im "Energiesparzustand" verbleiben. Physiologen nennen diese Reaktion, die auch viele nicht winterschlafende kleine Säugetiere - wie Fledermäuse oder Waldmäuse - in kritischen Zeiten anwenden, "tägliche Starre".
->   Saisonale Rhythmen und Winterschlaf
Anpassung durch Evolution
Unstrittig ist inzwischen, dass im Laufe der Evolution - wahrscheinlich während der Eiszeiten - jene Anpassungen entstanden, die den Tieren trotz Kälte und Nahrungsknappheit das Überleben sichern. Steinbock, Elch und Rentier verhalten sich ähnlich wie das nun von den Wiener Forschern untersuchte weniger extremen Winterbedingungen ausgesetzte Rothwild.
->   Institut für Zoo- und Wildtierforschung Berlin
Winterprogramm: Ruhe und Diät
Die Schlussfolgerung für die Praxis der Wildhege: Im Winter brauchen diese Tiere Ruhe mehr als alles andere und sind nicht unbedingt angewiesen auf zusätzliche Fütterung, weil sie ohnehin "auf Sparflamme brennen". Der Wildtierbiologe Walter Arnold warnt sogar, dass die jahreszeitliche Anpassung durch Fütterungen gestört wird:

"Das Tier, um es salopp zu sagen, denkt, 'es ist kalt, es muss Winter sein, die Tage sind kurz, es muss Winter sein, aber es gibt so was Gutes zu fressen - also ist es Sommer!' Dieser Sommer im Bauch, das Überangebot an bestem Futter, könnte für die Tiere zum Verhängnis werden - bringt ihren biologischen Kalender so durcheinander, dass sie mit der Kälte nicht mehr fertig werden können und trotz aller wohlwollenden Betreuung umkommen", erklärt Arnold.

Gerhard Roth, Modern Times
->   Ökologischer Jagdverein
->   Modern Times
 
 
 
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01.01.2010