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Probleme einer Mediendebatte  
  Mediendebatten leiden sehr oft an einem Grundproblem: an der Unschärfte des Medienbegriffes. Gegenwärtig blockiert die einseitige Fixierung auf dasKonzept von Massenmedien sehr oft die Diskussion. Im Interview mit science.ORF.at erläutert der deutsche Kulturwissenschaftler und Medientheoretiker Joseph Vogl die Probleme für eine Theorie der Medien und begründet, warum immer wieder Literaturwissenschaftler als Medientheoretiker hervorgetreten sind.  
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Sie sind eigentlich Germanist, gegenwärtig an der Bauhaus-Universität in Weimar Professor für die Geschichte und Theorie künstlicher Welten. Warum fällt der Wissenschaft "erst" heute die Künstlichkeit von Realität wissenschaftlich ins Auge? Literaturwissenschaftler sind ja eigentlich seit je gewohnt, mit der Künstlichkeit von Realität umzugehen. Oder anders gefragt: Sind gerade Literaturwissenschaftler prädestiniert dafür, Medientheoretiker zu werden - Beispiel Havelock, Beispiel McLuhan?
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Dazu wären zwei oder drei Dinge zu sagen. Zunächst gibt es in der Literaturwissenschaft seit gut 20 Jahren zentrifugale Bewegungen, die die exklusive Beschäftigung mit literarischen Texten als Teil einer Geschichte von Literatur hinter sich lassen. Man hat in der Literaturwissenschaft seit geraumer Zeit schon ein starkes Interesse, den Textbegriff zu erweitern - der Strukturalismus wäre ein Beispiel dafür. Parallel dazu hat man auch auf anderen Gebieten, etwa in der Geschichtswissenschaft, über die gleichsam literarische Konstruktion von Wissen nachgedacht. Auf der anderen Seite stimmt es, dass man als Literaturwissenschaftler ein geschärftes Bewusstsein - wenn man so will: ein technologisches Bewusstsein - für die Verfertigung von symbolischen Welten entwickelt. Die interessante Wende, die die Literaturwissenschaft an manchen Stellen genommen hat, liegt darin, dass die Frage, wie symbolisch oder "künstlich" Wirklichkeit verfasst ist, nicht nur mit Bezug auf Literatur, Kunst oder Fiktionen gestellt worden ist. Diese Frage kann sich auch auf andere symbolische Produktionsformen beziehen. Sie kann sich auf naturwissenschaftliche Texte und Traktate, auf Laborberichte und Tabellen beziehen, sie kann sich auf die "künstliche Welt" von experimentellen Anordnungen beziehen. Man kann darüber hinaus überhaupt nach den Bedingungen fragen, die notwendig sind, um kohärente Wissenskonstellationen zu erzeugen. In meiner Generation etwa war die Foucault-Lektüre ein ganz entscheidender Anstoß für solche Fragestellungen. Man hat also einen gewissen Sinn für die Verflüssigung von Gegebenheiten.
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Ist das Skizzierte das, was Sie mit dem Begriff einer "Poetik des Wissens" meinen? Dass man untersucht, wie sich Wissen unter bestimmten medialen Voraussetzungen formiert?
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Man darf nicht vergessen, dass die Literaturwissenschaft, aus der ja viele der Medientheoretiker heute kommen, immer schon eine ganz eigentümliche Form von Geschichtswissenschaft war. Das heißt erstens, dass das Fach mit einem eigenen Geschichtsbegriff operiert hat, der sich nicht einfach an einer politischen Ereignisgeschichte oder auch einem lebensweltlichen Erfahrungsbegriff orientierte, sondern der sich auf symbolische Ordnungen konzentrierte. Die Literaturwissenschaft hat zweitens auch immer ein besonderes Problem mittransportiert, nämlich die Frage: Wie wird ein Text oder ein Textsystem mit seiner jeweiligen Umwelt vernetzt? Wie lassen sich diese Umwelten über Literatur etwa rekonstruieren? Das kann man sich sozialhistorisch, über Text-Kontext-Verhältnisse oder am Beispiel bestimmter Medienkonstellationen ansehen. Das dritte Problem für die Literaturwissenschaft ist die Frage: Welchen Platz hat Literaturwissenschaft in einem Welterschließungsprogramm? Ist Literatur überhaupt ein privilegierter Ort für die Entschlüsselung von historischer Wirklichkeit? Über diese drei Fragestellungen konnte die Literaturwissenschaft relativ problemlos auch Gegenstände an ihrem Rand aufgreifen und in das Fach integrieren. Und über all diese Wege gelangt man auch zur Frage, welches intime Verhältnis sich zwischen Wissensformen und Darstellungsweisen eingestellt hat, eine poetologische Frage im weitesten Sinn.
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Sie machen jetzt einen bestimmten Typus des Literaturwissenschaftlers stark. Auf der anderen Seite gab und gibt es einen Zweig von Literaturwissenschaft, in dem man Literatur ganz stark als Teil einer Geistesgeschichte betrachtet. Könnte man sagen, dass die Geisteswissenschaften zu lange die Konstitutionsbedingungen von Wissen vernachlässigt haben?
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Genau genommen eigentlich nicht, wenn man nur näher hinsieht. Wenn man sich etwa Dilthey als den Begründer der Geisteswissenschaft anschaut, so bemerkt man, dass es schon bei ihm ein sehr hohes Bewusstsein dafür gibt, welche medialen Bedingungen notwendig sind, um so etwas wie ein Werk oder einen Autor zu fabrizieren. Dilthey ist nicht von ungefähr einer der Gründungsväter deutscher Nationalarchive. Als Dilthey etwa versuchte, den Autor und das Werk namens Kant zu konstruieren, war seine erste Forderung die Schaffung eines Kant-Archivs, also der Versuch, alle verstreuten Schriften zu versammeln. Da steckt ein sehr hohes Medienbewusstsein dahinter. Nur unter den Bedingungen des Archivs, also durch die Sammlung der veröffentlichten Werke, der handschriftlichen Notizen und verstreuten Zettel war für Dilthey ein Werkbegriff herstellbar. Mit diesem Blick kann man sagen, dass in den Geisteswissenschaften medientechnische Fragen immer schon eine ganz elementare Rolle gespielt haben. Ein anderes, heute besonders aktuelles Beispiel ist Cassirers Theorie der symbolischen Formen, mit der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Frage formuliert wird, welche symbolischen Formen auf welche Weise weltkonstitutiv sind - eine Frage, die ja sehr rasch von anderen Geisteswissenschaftlern, etwa von Panofsky mit der Frage nach der symbolischen Form der Zentralperspektive übernommen wurde. Ich denke also, dass die medienhistorische oder medienwissenschaftliche Fragestellung für die Geisteswissenschaft immer eine besondere Rolle gespielt hat. Es hat halt nur nicht immer so geheißen.
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Sie würden also für einen unverkrampfteren Umgang mit den Klassikern des Faches plädieren und die Re-Lektüre bestimmter Texte anregen?
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Ja, ich w¿rde vielleicht noch weitergehen und noch zwei Dinge festhalten: Zun¿st, dass medienwissenschaftliche Fragestellungen eine sehr lange Geschichte haben und aus historisch sehr fern liegenden Gegenden herkommen. Denken Sie etwa an die ganzen schrifttheoretischen ¿erlegungen, die im Umkreis der Literalkultur Griechenlands angestellt wurden - etwa am Beispiel Platons durch Ian Watts oder Jack Goody oder auch sp¿r Havelock. Durch Platon kommt ja die Frage auf: Was richtet eigentlich die Schrift an, wie geht Schrift mit Kommunikationsverh¿nissen, mit einer p¿gogischen Situation, ¿berhaupt mit der Episteme, also mit dem Wissen, um. Aus solchen Fragestellungen, die ja keineswegs besonders aufdringlich sind, lassen sich ganz umstandslos die Grundlinien medienwissenschaftlicher Arbeit gewinnen. Ein anderes Beispiel w¿ der Bereich, der die Medi¿sten schon l¿er interessiert, n¿ch eine mittelalterliche Schriftkultur, die ein problematisches Verh¿nis von M¿ndlichkeit und Schriftlichkeit umfasst und in der bestimmte Verstehensmuster oder Hermeneutiken, wie wir sie kennen, ¿berhaupt nicht greifen: weil Texte abgeschrieben und kopiert, aber von den Schriftspezialisten nicht zwangsl¿ig ausgedeutet wurden. Andere Verwendungszusammenh¿e also, und das hei¿, dass die Medi¿stik wohl immer schon eine gr¿¿re N¿ zur Materialit¿von Texten hatte. Schlie¿ich k¿nnte man sagen, dass gro¿n Mediendebatten schon zu Zeiten entfacht wurden, wo der Begriff des Mediums noch nicht in unserem Sinne existierte. Man denke an die Lesesuchtdebatte des 18. Jahrhunderts, als ¿zte, Physiologen oder Psychologen angefangen haben, dar¿ber nachzudenken, wie verderblich der B¿cherkonsum ist. Welche Onanisten, welche verf¿hrbaren Frauenzimmer werden da produziert? Aus unserer Perspektive sind diese Fragestellungen Teil einer Mediendebatte im eminenten Sinn. Und als solche wurde diese auch damals schon wahrgenommen, denn da geht es nicht um die Interpretation von Texten, sondern um Medieneffekte, um die ansteckende Wirkung von Massenliteratur etwa. Da geht es um Kommunikationsverh¿nisse, um Medien, die man in die stille Kammer mitnimmt und mit denen man unanst¿ige Sachen treibt. Mit solchen Fragestellungen kann man die oft k¿nstliche oder unfruchtbare Konfrontation zwischen einer geisteswissenschaftlichen und einer medienhistorischen Fragestellung unterlaufen.
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Haben die jetzigen Mediendebatten den historischen Blick zurück wieder geschärft? Dass man etwa die Lesesucht-Debatte als Teil einer Mediendebatte sieht?
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Vielleicht, aber manchmal möchte man fast das Gegenteil behaupten. Ich habe nämlich den Eindruck, dass gewisse medienhistorische Fragestellungen durch landläufige Medienvorstellungen eigentlich eher verstellt wurden. Auf der einen Seite wurden sie natürlich durch das verstellt, was man ideen- oder geistesgeschichtliche Traditionen nennt: die Annahme, dass im Reservat der Kultur nur so etwas wie ein Schöpfer, ein Autor - in der Nachfolge des Geniegedankens - geschichtsmächtig wirkt. Das ist ein Blockadephänomen für eine medienhistorische Diskussion. Die andere Blockade aber kommt von einem stark verengten Medienbegriff selbst her, verengt nämlich durch das, was heute "Massenmedien" heißt. Man könnte etwas zugespitzt formuliert sagen, dass diese beiden Dinge in der Literaturwissenschaft eigentlich ganz gut zusammengepasst haben. Man betreibt Literaturgeschichte unter den Bedingungen und Einheiten von Autor und Werk und fügt noch eine kleine Professur für Filmphilologie oder Fernsehwissenschaften hinzu. Das ist eigentlich gar kein Widerspruch: die hohe Literatur und die Massenmedien, beides ventiliert sehr viel Sinn und lässt sich ausgiebig interpretieren, hat aber auf manchen Gebieten eine konsequente Befragung des Medienbegriffes selbst verhindert.
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Beim Stichwort Befragung des Medienbegriffes fällt auf, dass sich die universitäre Wissenschaft methodisch oft leichter tut, historische Gegenstände medienwissenschaftlich zu untersuchen als die zeitgenössischen. Würden Sie diesen Befunde teilen, und wenn ja, wo vermuten Sie die Gründe?
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Ich w¿rde zun¿st einmal sagen, dass nicht nur die Literatur- und Kunstwissenschaften ein Unsch¿e-Problem haben, wenn es um die Besch¿igung mit Fragen der Gegenwartskultur geht. Das betrifft etwa die Zeitgeschichte oder die Politologie genauso. Vielleicht muss man das Problem pr¿anter stellen. Wenn man die Frage der Medien innerhalb der Geisteswissenschaften aufwirft, dann besteht das Problem jetzt weniger darin, ein Medium, sei es das Fernsehen, sei es das Radio, sei es das Internet, zum Gegenstand zu machen, sondern die Frage darauf zu konzentrieren, was ¿berhaupt ein Medium sei. Und sehr schnell kommt man in einem zweiten Schritt darauf, dass dieser Begriff eine ¿erst gro¿ Spannweite hat. Man muss sich also fragen: Ist ein Medium eher etwas Technisches, ist ein Medium ein Code oder eine Kommunikationsform, ist Medium eine symbolische Form oder ist es eine Institution wie etwa das Theater, oder ist es gar eine Gattung wie der Film? Das Problem, das dabei auftaucht, liegt darin, dass es wohl kein Medium in einem historisch ¿berdauernden und substanziellen Sinn gibt. Die Entscheidung f¿r einen bestimmten Medienbegriff provoziert sehr viele Nachfolgeentscheidungen: z.B. unterschiedliche Geschichtsbegriffe, Epocheneinteilungen. Eine Geschichte von Medien sieht jeweils anders aus, wenn man sie als eine Geschichte technischer Medien - Buchdruck, Elektrizit -Elektronik - beschreibt oder als eine Geschichte von symbolischen Formen (etwa vorperspektivische Malerei - Perspektive - Aufl¿sung der Perspektive). Oder wenn man beispielsweise einen institutionellen Komplex in den Mittelpunkt stellt, etwa das Fernsehen. Fernsehen ist ja nicht einfach eine Technologie, dazu geh¿ren vielmehr Anstalten, bestimmte technische, politische, soziale und rechtliche Einrichtungen, also ganz unterschiedliche, heterogene Geschichten. Um auf Ihre Frage zur¿ckzukommen: Ich glaube, dass die Besch¿igung mit der Gegenwart hier tats¿lich ein Problem darstellt, da die Analyse des Gegenw¿igen immer von der Entscheidung f¿r historisch gewordene Begriffe abh¿t. Diese Entscheidungen muss man immer wieder von neuem treffen und darf sie nicht einfach hinnehmen. Die interessanteren unter den Medienwissenschaftlern tun dies auch ganz konsequent. Jemand wie Friedrich Kittler etwa wird nicht m¿de zu beteuern, dass sein Medienbegriff technologisch orientiert (und nat¿rlich entsprechend begrenzt) ist. - Man sollte aber noch hinzuf¿gen - und das ist eine weitere Antwort auf Ihre Frage -, dass es gegenw¿ig Prozesse gibt, deren Konsequenzen wir im Augenblick noch gar nicht absehen k¿nnen - n¿ich die Entstehung einer Technologie, die bestimmte Differenzen, die f¿r uns alt- und neueurop¿ch einge¿bt waren, kassiert. Das sind nat¿rlich digitale Medien, die etwa die Differenz von visuellen und akustischen Signalen oder die Unterscheidung von Zahlen und Buchstaben unterlaufen. Damit wird eine anthropologisch begr¿ndbare Ordnung durchkreuzt, eine Aufteilung, die besagt, dass etwa Lesen etwas anderes ist als Rechnen oder H¿ren etwas anderes als Sehen. Wir haben nun eine Maschine vor uns, die signalisiert, dass der Mensch nur ¿ber sehr gn¿ge Schnittstellen mit diesem Ger¿nkommunizieren und seine eigenen Sinne behalten darf. Das ist eine bisher noch unabsehbare Geschichte von Techniken, Sinnen, Menschenformen.
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Würden Sie sagen, dass die, die über Medien sprechen, ihre Methode deutlicher machen müssen?
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Ich würde gar nicht so weit gehen, denn Methode klingt sehr nach einer disziplinären Ordnung, die man im Augenblick nicht richtig fordern kann, weil die interessantesten Prozesse gegenwärtig eher experimenteller Natur sind. Man müsste sich eher darüber klar werden, dass jede medienwissenschaftliche Frage, die man in diesem historischen Feld stellt, zugleich eine Entscheidung für ein bestimmtes Mediending trifft und also, mit Luhmann gesprochen, eine Differenz zieht. Und man muss sich darüber klar sein, dass diese Entscheidung weitere Entscheidungen nach sich zieht. Das ist noch überhaupt keine Methode im strengen Sinn, sondern die Erschließung eines Experimentierfeldes, in dem noch viele Wege offen sind.
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Kann es nicht sein, dass die Wissenschaft ein bisschen die Angst vor dem Populären plagt? Muss man, wenn man etwa über den Hyperlink spricht, dazu immer sofort eine Metatheorie haben?
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Ich muss gestehen, dass der Reflex, sich auf das Populäre einzulassen, für mich ein durchaus erfreulicher Reflex ist, auch wenn er manchmal von sehr unerfreulichen Figuren übernommen wird. Man sollte sich aber doch gewisse Reserven der Kontemplation erhalten. Ich würde in diesem Kontext die Frage etwas anders stellen: Wenn es so etwas wie Populärkultur gibt und wenn es auch eine Ökonomie der schnellen Verarbeitung und Kommentierung von populären Neuheiten gibt, dann ist es nicht notwendig sich abzumühen, diese Konjunkturen auf einem langsameren Gebiet, das abhängig ist von den gemächlichen wissenschaftlichen Produktionsapparaten, einfach zu wiederholen. Was mich in diesem Kontext interessiert, ist die Frage nach der Intelligenz, die in diesen Reproduktionsformen von Populärkultur ohnedies schon steckt. Man muss diese Intelligenz nicht noch einmal produzieren, sollte sie viel eher entziffern. Die Probleme, die da verhandelt werden, sind ja nicht schon deswegen, weil es schnell und flott zugeht wird, seicht. Es mag einen daran nur eine allgemeine Sucht nach Zusammenhang stören: In der populären Kultur hängt alles mit allem so elegant und bruchlos zusammen, als gäbe es nur eine einzige Welt. Und da möchte man intervenieren, etwa mit anderen Verarbeitungsformen. In diesem Sinn wäre Wissenschaft, etwas salopp gesprochen, durchaus unpopulär, nämlich eine Maschine, die Unterbrechungen, Anschlussfehler herstellt.
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Man hat ja oft den Eindruck, dass sich die Wissenschaft Fragestellungen oft so hoch heben muss, damit sie nur ja über die universitäre Hürde hinüberpassen.
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Ja, das ist das Eine. Das Andere aber ist, dass Massenmedien definitionsgemäß nur funktionieren können, wenn ihr rationaler Einsatz, die Vernunft, die dabei eine Rolle spielt und zirkuliert, in irgendeiner Weise die Form des gesunden Menschenverstandes annimmt. Würde man dagegen Physiker, Biochemiker oder Philosophen befragen, so würden die wohl immer sagen, dass die Rationalität, die in ihren eigenen Wissensfeldern wirksam ist, sicher nicht der gesunde Menschenverstand sein kann. Die Wissenschaften funktionieren eher über kontraintuitive Annahmen, über manchmal sehr irrwitzige Hypothesenbildungen. Die Wissenschaft (im weitesten Sinn) wäre schlecht beraten, würde sie den gemeinen Verstand oder die Fragen und Antworten, die ohnehin schon zirkulieren, zu ihrer Sache machen.
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Ich möchte noch einmal zurück auf ein Stichwort, das Sie vorher genannt haben, nämlich das Stichwort "Entziffern". Es gibt in Bezug auf Neue Medien bzw. das, was man als Netzwerkgesellschaft verhandelt, sehr unterschiedliche Erwartungen. Würden Sie sagen, dass wir gegenwärtig noch klassische Konzepte von Literalität fortschreiben? Oder ist das Modell der Zukunft der Programmierer, da wir uns mehr mit Algorithmen u.ä. als mit alphabetischen Schriftformen beschäftigen müssen?
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Es sind natürlich ein Texttypus und eine Textverarbeitung aufgetaucht, für welche die Philologie nicht mehr hinreicht, wenn man Philologie als materielle Textwissenschaft begreift, die in letzter Konsequenz Textkritik bedeutet. Damit setzt sie immer auch einen Zeitbruch voraus zwischen der Textproduktion auf der einen Seite und Textverarbeitung durch Philologen auf der anderen Seite. Wenn man das auf elektronische Datenverarbeitung umlegt, dann muss man sagen, dass eine entscheidende historische Differenz nun gelöscht ist: Text-Verarbeiten heißt dann gleichzeitig Text-Produzieren, und das ist neu und erzeugt neue Experten bzw. "Philologen", die wissen, dass Texte machen Befehle geben heißt, nämlich Algorithmen schreiben, nach deren Diktat dann Maschinen arbeiten können. Ich glaube, dass damit tatsächlich ein Expertenwissen heraufgezogen ist, das philologisch, mit einem philologischen Geschichtsbegriff, nicht mehr erreichbar ist. Und natürlich muss man sich die Frage stellen, ob so etwas für genuin geisteswissenschaftliche Fragestellungen überhaupt noch zugänglich bleibt. Ich glaube das nicht, es wird vielleicht ein anderer Wissenschaftsbegriff verlangt. Gefordert ist nun ein unheroischer Wissenschaftsbegriff, der einräumt, dass dieses Expertenwissen und seine Geschichte nicht mehr von einem herkömmlichen Fachwissenschaftler bearbeitet werden kann. In günstigen Konstellationen (etwa bei uns, an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität in Weimar) wird das versucht, man ist zu einer Aufteilung von Kompetenzen und Aufgaben aufgerufen. Die Wissenschaft, glaube ich, muss da ein wenig bescheiden und in verteilten Rollen operieren, will sie sich elementare Sachverhalte der Gegenwartskultur nicht entgehen lassen.
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Blickt man auf das Internet und die sich mit diesem Bereich auch formierende Wissensgesellschaft, so fällt auf, dass das Internet eigentlich eine sehr klassische Textkompetenz fördert, denn für den Anwender ist es ja eher belanglos, wie seine Textteile in Form eines Algorithmus umgesetzt werden. Anno 2002 schreiben wir jedenfalls mehr als je zu vor. Könnte man sagen, dass gerade hierbei eine Herausforderung für die Wissenschaft besteht, nämlich das "Alte" in den Neuen Medien zu entdecken?
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Jede Wissenschaft (und mehr noch: jede Textproduktion) ist mit Selektionsfragen verbunden, d.h. jede Wissenschaft konstituiert sich durch Grenzziehungen und im weitesten Sinn durch Kanonisierung von Gegenst¿en. Das beginnt (etwa in der Literaturwissenschaft) mit einer gewissen Kanonisierung von Literatur, von Sekund¿iteratur, von bestimmten Fragen usw. Aus der Sicht des reinen Users gesprochen scheinen sich die Probleme heute verkehrt zu haben. Als ich zu studieren begonnen habe, stellte sich die Frage, wie das Massiv eines festen Literatur-Kanons ausgeweitet oder abgetragen werden konnte. Heute, unter den Bedingungen der Netzkultur, habe ich den Eindruck, dass umgekehrt ganz dr¿ende Selektionsfragen auftauchen. Auf technologischem Gebiet taucht etwa die Frage auf, wie effizient die Suchmaschinen sein k¿nnen, damit sie nicht m¿glichst viel, sondern damit sie m¿glichst wenig finden. Je weniger, desto besser. Dieses Problem hat die Wissenschaft ebenso: Wie k¿nnen gewisse Themenbezirke so abgegrenzt werden, damit man nicht immer durch Sumpf der Redundanz waten muss? Das Netz hat f¿r uns noch einmal in einer ganz besonderen Weise die Frage gestellt, welche Regeln und Diskursformationen n¿tig sind, damit ¿berhaupt eine mehr oder weniger anschlussf¿ge Kommunikation entsteht. Um auf den Aspekt der Textproduktion zur¿ckzukommen: Die Internetkommunikation scheint mir dadurch charakterisiert, dass Anschl¿sse und Schwellen minimal markiert sind. Anschl¿sse und Fortsetzungen sind immer in die unterschiedlichsten Richtungen m¿glich. Die Patchwork-Kommunikation, die da stattfindet, hat jeden schon einmal in die Verzweiflung getrieben und nach einer harten, kr¿igen, effizienten Selektion rufen lassen. Man wird also durch das Internet in einer fast schon foucaultschen Weise auf die Ordnung des Diskurses verwiesen, die man nun angesichts der textuellen Wucherungen selbst jeweils neu herstellen oder reproduzieren muss. Das ist schon eine halbe Wissenschaft. Wir wollen nicht alle "Informationen", die das Internet bietet, sondern wir wollen m¿glichst scharfe Selektionen durch das Internet. Das ist ein technisches ebenso wie ein wissenschaftliches Problem und macht die jeweiligen Diskursbedingungen immer wieder zur Verhandlungssache.
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Wird so etwas wie eine Ökonomie der Aufmerksamkeit eine größere Rolle spielen?
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Man kann es eigentlich basaler formulieren: Wie bewältigt man Redundanz-Probleme? Das ist in einem bestimmten Wissenschaftszusammenhang durchaus neu, nämlich dass Daten, Aussagen, Ereignisse nicht knapp sind, sondern in einem gewissen Überfluss vorhanden, und dass man darum Redundanzphänomene definieren, bewältigen und administrativ bearbeiten muss.
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Ist die Rede von den "neuen" Herausforderung eigentlich zu sehr hochgespielt? Steht die Wissenschaft auch in der Gegenwart vor den ewig gleichen Herausforderungen?
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Was aussteht, ist die Beantwortung der Frage, wie bestimmte wissenschaftliche Fragestellungen unter bestimmten technologischen Bedingungen funktionieren und wie sich dadurch auch Wissensbegriffe verändern. Lyotards Schrift "Das postmoderne Wissen" ist noch immer ein zentraler Quellentext, der aber sehr thesenhaft oder hypothetisch geblieben ist. Es gibt ganz wenige Arbeiten, die nach den Ordnungen des wissenschaftlichen Diskurses unter genau diesen technischen Bedingungen fragen. Allgemeiner gesagt würde ich meinen, dass die Öffnung einer wissenschaftlichen Kommunikation durch das Netz die prekäre Lage von Wissenschaft, nicht zuletzt von Geisteswissenschaften, deutlich gemacht hat. Zwischen dem Staat auf der einen Seite und dem Marketing auf der anderen Seite ist die Wissenschaft irgendwie positionslos, haltlos geworden. Jedenfalls ist sie in eine doppelte Verteidigungsposition geraten. Neue Kommunikationsmedien haben es der Wissenschaft klarer vor Augen gehalten: Was heißt es, sich zwischen dem Arkanwissen des Staates und der Universität auf der einen Seite und dem Privatwissen und der ökonomischen Definition von Wissen auf der anderen Seite zu situieren? Wie kann man dieser Falle entkommen?
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Die Fragen stellte Gerald Heidegger, ORF.at
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01.01.2010