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Humangenetik statt Psychotherapie?  
  Gleichgültig, ob es sich um "das" Gen für Magersucht, Schizophrenie oder Hyperaktivität handelt: Trotz zunehmender Vorsicht vieler Experten ist der Hype um die Gene, die für psychische Krankheiten "verantwortlich" gemacht werden, ungebrochen. Potenzielle Profite durch noch nicht existente Arzneimittel veranlassen speziell die Biotech- und Pharmakonzerne zu entsprechenden Jubelmeldungen. Der Psychotherapie, einst die wichtigste Technik zur "Veränderung" der Menschen, ist somit ein ernst zu nehmender Konkurrent erwachsen.  
Neue und alte Aufgaben der Psychotherapie
Noch in den 70er Jahren schien die Psychotherapie den erfolgreichsten Weg zur Heilung von psychischen Krankheiten zu weisen. Was damals als Folge sozialer Praxis - Gespräche, Handlungen, Interventionen - erreicht werden sollte, wird heute von der Humangenetik erhofft. Durch die gezielte Behandlung und Modifizierung des menschlichen Erbguts sollen gewisse Krankheiten - darunter auch psychische - vermieden werden.

Für die Psychotherapie bedeutet dieser fromme Wunsch der Humangenetiker aber nicht nur eine neue "Konkurrenz", was die Veränderbarkeit von Menschen betrifft. Es eröffnen sich ebenso neue Aufgabenfelder.
Beratung von Gentestern
Immer wichtiger wird etwa die Beratung von Menschen, die sich einer Genanalyse unterziehen, um das Risiko eines Krankheitsausbruchs für sich oder ihre etwaigen Kinder herauszufinden.

Auf dem kürzlich zu Ende gegangenen Kongress "Gentherapie statt Psychotherapie?" in Berlin beschrieb die Bonner Psychiaterin Marcella Rietschel dann auch das Zukunftsszenario ihrer Zunft: "Psychiater und Psychologen werden diejenigen sein, die ihre Patienten über die Möglichkeiten und Grenzen der genetischen Untersuchung aufklären müssen."

Das Ansteigen derartiger Dienstleistungen hält Margret Aull, Präsidentin des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie (ÖBVP), gegenüber science.ORF.at für den "Ausdruck einer Gesellschaft, die möglichst viel machen möchte und wenig bereit ist, den Umgang mit Beschränktheiten zu lernen".
->   ÖBVP
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Kongress "Gentherapie statt Psychotherapie?"
Ende Februar fand in Berlin der Kongress "Gentherapie statt Psychotherapie? - (K)Ein Abschied vom Sozialen?!" statt. An die 800 Teilnehmer setzten sich dabei nach Auskunft der Veranstalter, der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT), "zum ersten Mal umfassend" mit dem Einfluss der Genforschung auf die sozialwissenschaftlich orientierten Humanwissenschaften auseinander.
->   DGVT
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"Übersteigerte Vorstellung von der Vererbbarkeit"
Für den Psychiater, Neurologen und Psychotherapeuten Harald Aschauer ist derlei freilich alles andere als Zukunftsmusik. Schon seit 1993 leitet er eine Ambulanz zur genetischen Beratung an der Universitätsklinik für Psychiatrie des Wiener AKH.

Gegenüber science.ORF.at formuliert Aschauer eine seiner Haupterkenntnisse: "Die Menschen haben eine ungemein übersteigerte Vorstellung von der Vererbbarkeit der Krankheiten." Ziel der Beratung sei daher ein "Entängstigen" durch das Vorlegen von Fakten, Zahlen und Daten.
Psychische Krankheiten sind multifaktoriell
Zwar gebe es natürlich eine Reihe von gesundheitlichen Problemen wie Down-Syndrom und Chorea Huntington, die eindeutig genetisch bedingt sind, aber "psychische Krankheiten wie Angsterkrankungen sind mit Sicherheit keine Erbkrankheiten, sondern multifaktoriell", d.h. Resultate sowohl psychosozialer wie auch biologischer Faktoren.
->   Universitätsklinik für Psychiatrie, AKH Wien
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Psychosoziale Betreuung vor Gentests
Das österreichische Gentechnikgesetz regelt u.a., unter welchen Bedingungen sich Patienten überhaupt Genanalysen unterziehen dürfen. Noch bevor es etwa zu einem Test auf eine eindeutige monogenetische, neurologische Krankheit wie Chorea Huntington kommt, bedarf es einer psychosozialen Betreuung.

An der Ambulanz von Aschauer ist es zudem Praxis, dass es noch vor dieser Betreuung zu einer Beratung kommt, bei der allgemeine Informationen über die befürchtete Krankheit geliefert werden. Dann müssen die Psychotherapeuten aufgesucht werden, und erst danach kann es zur Genanalyse kommen. Wer einzig auf die Absolvierung des Gentests aus ist, wird nach Auskunft Aschauers abgelehnt.
->   Österreichisches Gentechnikgesetz
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Gen-Glaube herrscht seit der NS-Zeit
Die Ursache für den tiefen Glauben an die genetische Bestimmung sieht Aschauer in der Geschichte Österreichs: "Ein Gesetz der Nationalsozialisten aus dem Jahr 1933 definierte Erbkrankheiten wie z.B. Epilepsie, Schizophrenie oder Veitstanz. Deren Träger wurden aus ideologischen Gründen sterilisiert und getötet."

Dieser Glaube und die damit verbundene Angst vor der Psychiatrie wirke bis heute nach, so Aschauer.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
->   Leitlinien zur Gestaltung der Patienten- bzw. Probandeninformation und der Einverständniserklärung bei genetischen Studien (Ethikkommission AKH Wien; pdf-Datei)
 
 
 
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01.01.2010