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Stammzellen: Profit mit weißer Weste?  
  In Deutschland ist die Diskussion um den geplanten Import von embryonalen Stammzellen seit der Entscheidung des Bundestages, diese unter strengen Auflagen zu importieren, nicht verstummt. Deutsche Wissenschaftler kritisierten am Montag erneut den Gesetzesentwurf, vor allem die darin enthaltene "Stichtagsregelung", und fordern flexiblere Möglichkeiten.  
Gleichzeitig jedoch wolle die Politik sowie die Wissenschaft eine "ethisch weiße Weste" behalten, meint der Genetiker Markus Hengstschläger und diskutiert dieses Dilemma in einem Kommentar für science.ORF.at.
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Hintergrund: Deutsche Wissenschaftler gegen Stammzellgesetz
Deutsche Wissenschaftler erneuerten am Montag in Berlin ihre Kritik an dem Gesetzentwurf, vor allem was die geplante "Stichtagsregelung" betrifft: Sie befürchten, dass nicht genügend Zellen für die wissenschaftliche Arbeit zur Verfügung stehen könnten.
->   Mehr dazu in science.ORF.at
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Wissenschaftlicher, wirtschaftlicher und therapeutischer Profit mit weißer Weste?
Ein Kommentar zu aktuellen Stammzell Diskussion von Markus Hengstschläger, Genetiker an der Abteilung für Pränatale Diagnostik und Therapie, Universitätsklinik für Frauenheilkunde, AKH Wien.

Die öffentliche Diskussion teilt Stammzellen nicht nach biochemischen/genetischen Merkmalen, wie z. B. Zelltyp-spezifischen Oberflächenproteinen, ein. In aller Munde sind eigentlich nur mehr zwei verschiedene Typen von Stammzellen: Die EINEN und die ANDEREN.
Die Einen und die Anderen ...
Die EINEN können noch in alle, zumindest aber in sehr viele, verschiedene Zelltypen des Menschen differenzieren und sind für wissenschaftliches Arbeiten im Labor gut zugänglich (sie vermehren sich effizient und über eine lange Zeitdauer ...).

Die ANDEREN sind sehr schwer zu finden, es ist aufwändiger und komplizierter, mit ihnen im Labor zu arbeiten (sie teilen sich kaum bzw. nicht ...), und in wie viel verschiedene und welche Zelltypen sie sich noch differenzieren lassen ist heute unklar.

Dementsprechend geht man auch heute davon aus, dass ein eventuell zu entwickelndes Therapiespektrum mit diesen Zellen wahrscheinlich eingeschränkter sein wird. Also keine Frage - alle wollen die EINEN!?
Umstrittene embryonale Stammzellen
Das Problem dabei ist: Die EINEN sind embryonale Stammzellen aus der inneren Zellmasse eines menschlichen Embryos. Der Wissenschaft kann man sie nur zugänglich machen, wenn man bereit ist, den Embryo dabei unwiederbringlich zu zerstören.

In der Regel handelt es sich hierbei um einen ungefähr fünf Tage alten Embryo, der aus 200 bis 250 Zellen besteht. Die ANDEREN sind (adulte, Anm.) Stammzellen, die man in den verschiedensten menschlichen Geweben und Organen findet. Ethische Bedenken hierbei gibt es nicht.
Profit zu einem hohen Preis
Eines steht fest: Den mit Sicherheit schnelleren Weg zum wissenschaftlichen und schließlich auch wirtschaftlichen Profit bieten embryonale Stammzellen.

Nun haben sich einige Länder dieser Welt dazu durchgerungen, den hohen Preis zu bezahlen und Embryonen (zum Beispiel bei der künstlichen Befruchtung "übriggebliebene" Embryonen) zu verbrauchen.

Angesichts des unglaublich großen Potentials embryonaler Stammzellen für die Therapie einer Vielzahl schwerer Erkrankungen (z. B. des Nervensystems oder des Herzens) ist eine sachliche Abwägung unbedingt notwendig.
Neue Therapien für schwerstkranke Menschen?
Die Möglichkeit, schwerstkranken Menschen völlig neue Therapien bieten zu können, ist ein starkes Argument. Will man diese Therapien aber Realität werden lassen, so muss der wissenschaftliche Weg dorthin so bald wie möglich gestartet werden.

Wie lange wird man warten können in der Hoffnung, dass auch die adulten Stammzellen zum gewünschten Ziel führen? Und werden sie es überhaupt? Sollte sich jemals die Situation Leben (des 5-Tage Embryos) gegen Leben (eines z.B. dem Tod geweihten Angehörigen) einstellen - wie würde man sich entscheiden?
Ethik kontra medizinische Möglichkeiten
Eine optimale Entscheidung kann es nicht geben. Aufgrund des noch eingeschränkten Wissensstandes wird das nicht morgen, aber vielleicht übermorgen Realität sein können.

Wird ein Land, das den Weg der embryonalen Stammzellforschung aus ethischen Gründen nicht gegangen ist, seinen Patienten die Therapien, die in anderen Ländern eventuell erfolgreich entwickelt wurden, dann anbieten (können)?
Beispiel Deutschland
Genauso denken viele Wissenschaftler in Deutschland. Sie wollen humane embryonale Stammzellforschung in Deutschland betreiben.

Und wer die Erfolge deutscher Wissenschaftler mit Arbeiten an Tiermodellen oder mit humanen adulten Stammzellen kennt, kann sich vorstellen, dass Deutschland auch in diesem Wissenschaftsbereich internationale Spitzenforschung betreiben würde.
Das Problem der "ethisch weißen Weste"
Die deutsche Politik (!), die deutsche Gesellschaft (?), die deutschen Wissenschaftler (?) wollen aber gleichzeitig eine ethisch weiße(re) Weste haben. Wie das gehen soll? Nun, man möchte zwar an embryonalen Stammzellen forschen, aber selbst keine Embryonen dafür verbrauchen.

Wie das gehen soll? Man importiert embryonale Stammzellen aus dem Ausland! Wie und wieso das zu einer ethisch weißeren Weste führen soll ist erklärungsbedürftig.
Nachteile der Stichtagsregelung?
Wie auch immer, einem Gesetzesentwurf zufolge sollen nur solche embryonalen Stammzellen in Deutschland eingeführt werden dürfen, die vor dem 1. Januar 2002 hergestellt wurden.

Die Gewinnung und Herstellung von embryonalen Stammzelllinien unterliegt den für die Wissenschaft nun einmal so charakteristischen Optimierungsprozessen.

Das bedeutet, dass Wissenschaftler, die nur mit "alten" embryonalen Stammzelllinien arbeiten dürfen, einen klaren Nachteil haben müssen (vielleicht haben sie eines Tages zu wenige Zellen, sie haben aber mit Sicherheit eines Tages nicht mehr Zellen, die nach den aktuellsten Verfahren gewonnen, gezüchtet, charakterisiert, geprüft etc. wurden).
Die flexiblere Lösung - weniger "weiß"?
Aus wissenschaftlicher Sicht ist es daher nur logisch, dass deutsche Wissenschaftler letzt für eine flexiblere Lösung plädieren: Forscher sollen Zellen importieren dürfen, die sechs Monate vor der Antragsstellung produziert wurden.

Wie aber steht es mit der ethisch weißen Weste, die die deutsche Politik haben möchte? Kann es denn ethisch vertretbarer sein, ein paar Monate vor dem wissenschaftlichen Experiment im Ausland die Gewinnung der optimalen embryonalen Stammzellen in Auftrag zu geben, um sie dann im Inland zu verwenden, als sie selbst zu gewinnen?
Öffentliche Debatte und Information
Jedes Land, die Wissenschaft, die Politik vor allem aber die gesamte Gesellschaft, muss sich in Ruhe und nach ausreichenden Überlegungen der Pros und Contras eine Meinung bilden können.

Dafür muss detailliert und objektiv informiert werden. Ist der Punkt wirklich bereits erreicht, an dem es ohne embryonale Stammzellen nicht mehr geht - oder besteht nicht auch noch eine gute Chance, über Stammzellen aus anderen Quellen zum Ziel zu gelangen?
Ginge es nach mir (und es geht nun wirklich in keiner Weise nach mir), so denke ich aber, dass die deutsche Lösung kein Vorbild ist. Kommt man zum Schluss, embryonale Stammzellforschung zu erlauben, dann inklusive ihrer Gewinnung.

Findet man in einem Land Konsens gegen das Verbrauchen von Embryonen, so müsste die Arbeit an ANDEREN Stammzellen dann aber auch in wirklich ausreichendem Maße gefördert werden.

Nur so wäre es schließlich möglich die Frage nach der Unverzichtbarkeit embryonaler Stammzellen zu beantworten. Eine Entscheidung zwischen diesen beiden Stühlen ist vielleicht wirklich schwer zu treffen, sich dazwischen zu setzen ist aber keine Lösung.
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Ulrich Körtner: Menschliche Embryonen oder embryonale Menschen?
->   Ulrich Körtner: Zur Entscheidung des deutschen Bundestages über den Import embryonaler Stammzellen
->   Stammzellen-Import: Gesetzeslage in Österreich
 
 
 
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01.01.2010