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Polio-Impfstoff: Mutation gefährdet Ausrottung  
  Abgeschwächte Polioviren, die als Impfstoff verwendet werden, können sich Gene von anderen Viren "ausborgen", und so zum Ausbruch von Kinderlähmung führen. Damit ist das Ziel der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Poliomyelitis global auszurotten, in Gefahr.  
Eine Dosis von oralem Poliomyelites-Impfstoff (OPV) kann sich zur aktiven Form des Erregers zurückentwickeln und somit zu seiner Vermehrung und Verbreitung führen, wie jetzt Wissenschaftler festgestellt haben. Neue Forschung zeigen, wie der Polio-Impfstoff zum Opfer seines eigenen Erfolges wurde.
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Poliomyelitis
Poliomyelitis, kurz Polio genannt, ist hoch ansteckend. Die Übertragung erfolgt über Tröpfchen- oder Schmierinfektion. Die Viren gelangen über den Mund in den Körper und dringen später in das Nervensystem ein. Sie können innerhalb von Stunden vollständige Lähmungen auslösen. Die Anfangssymptome sind Fieber, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Erbrechen sowie ein steifes Genick und Gliederschmerzen. Nach Angaben der WHO führt eine von 200 Infektionen zur Lähmung, zumeist in den Beinen. Von den gelähmten Patienten stirbt fast jeder zehnte an Störungen der Atemmuskulatur.
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Das Ziel: Die weltweite Ausrottung des Erregers
Mit diesen Erkenntnissen über die Rückverwandlung der Polioviren zeigt die Forschung ein gewichtiges Problem auf, das die WHO bewältigen muss, um das Ziel - die Eradikation (Ausrottung) der Poliomyelites durch Impfung - zu erreichen.

"Das erinnert uns, dass wir sehr vorsichtig mit der 'Post-Ausrottungs-Periode' umgehen müssen", erklärt dazu Bruce Aylward, Leiter des "polio eradication program" der Weltgesundheitsorganisation gegenüber "Nature Science Update".
Beinahe verschwunden
Seit der Einführung der Polio-Schluckimpfung 1960 konnte die Krankheit, die schwere Lähmungen verursacht, beinahe ausgerottet werden. Im Jahr 2000 wurden nur 2.000 Fälle gezählt.

Dass die abgeschwächten Viren der oralen Schluckimpfung sich zu einer virulenteren (krankheitserregenderen) Form entwickeln können, ist allerdings seit der Erschaffung des Impfstoffes bekannt.
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Poliomyelitis-Impfstoff
Die Immunisierung gegen Poliomyelitis (Kinderlähmung) erfolgt im Falle der oralen Schluckimpfung durch so genannte Lebendimpfstoffe. Diese enthalten vermehrungsfähige Erreger, die durch verschiedene Verfahren abgeschwächt sind (Attenuierung).
Der große Vorteil besteht darin, dass sie die echte Krankheit "im Kleinen" durchspielen und daher oft eine gute und langanhaltende Immunität erzeugen. Ihr Nachteil ist, dass es in (sehr seltenen) Fällen zu schwerwiegenden Nebenwirkungen und Krankheitserscheinungen kommen kann. Neben der oralen Schluckimpfung gibt es auch einen risikoärmeren Totimpfstoff, der per Injektion verabreicht wird. Die Wirksamkeit liegt jedoch deutlich unter derjenigen der oralen Schluckimpfung.
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Plötzliches Problem
Dies wurde erst kürzlich zu einem Problem - denn Ausrottung in einem Gebiet bedeutet, dass die Empfänglichkeit im Steigen begriffen ist, da das Immunsystem der betreffenden Bevölkerung nicht mehr "im Training" ist. Zudem wird - um "Impfschäden" zu vermeiden - nach der Eradikation eines Erregers die Impfung oft eingestellt.
Tödliche Impfung
1999 wurde der amerikanische Kontinent als frei von wilden - und somit krankheitserregenden - Polio-Stämmen erklärt. Dennoch kam es erneut zu einem Ausbruch auf Hispaniola, einer karibischen Insel. Die Krankheit tötete zwei Kinder und lähmte weitere 19.

Aus der genetische Struktur von Virus-Proben der erkrankten Kinder konnte nun der Ursprung des tödlichen Virus abgeleitet werden.

"Der Ausgangspunkt war eine Einzeldosis oralen Schluckimpfstoffes, den ein Kind bekam", meinen der Virologe Olen Kew vom "US Center for Disease Control and Prevention" (CDC) in Atlanta, Georgia, und sein Team. Die Wissenschaftler berichten über ihre Ergebnisse im Fachmagazin "Science".
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Studie in "Science"
Der Artikel "Outbreak of Poliomyelitis in Hispaniola Associated with Circulating Type 1 Vaccine-Derived Poliovirus" wurde vom Fachmagazin "Science" vorab online publiziert. Die Studie wird in einer der kommenden Print-Ausgaben erscheinen.
->   Science (kostenpflichtig)
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Mutation und "falsche" Gene
Jene Gene, die entscheidend sind für die Virulenz (Krankheitspotential) des Erregers, sind in der oralen Schluckimpfung eigentlich ausgeschaltet. Sie schalteten sich im "Hispaniola Virus" jedoch wieder ein, möglicherweise durch zufällige Mutation.

Zudem fanden die Forscher auch andere Gene, die normal nicht zum Poliomyelitis-Erreger gehören. Das angreifende Virus hatte sich genetische Informationen von verwandten Darmkeimen - Enteroviren genannt - in Kindern, die es infizierte, "ausgeborgt".
Ein gefährlicher Trick
Dieser Trick könnte es dem Virus ermöglicht haben, wesentlich schneller Virulenz und somit Gefährlichkeit zu erlangen, als durch Zufallsmutation.

"Das ist eine 'großartige' Abkürzung", meint Mark Pallanch vom CDC-Team. Glücklicherweise könne diese Art der Umkehr nur in bestimmten Situationen entstehen, so der Experte weiter.
Keine "Immunitäts-Wand" auf Hispaniola
In einigen Gegenden Hispaniolas wurden rund 20 Prozent der Kinder nicht vollständig mit der Schluckimpfung geimpft. "Wilde" Polioviren, die auch Immunität bewirken können, waren zudem viele Jahre von der Insel verschwunden.

So gab es ausreichend Kinder auf der Insel, die empfänglich genug waren, die Viren zu tragen und zu verbreiten. Auf Hispaniola war der Prozess der Reversion (Rückentwicklung) nicht durch eine "Wand aus Immunität blockiert", erklärt dazu Forschungsleiter Kew.

Auf diese Weise konnte sich offenbar das Virus der oralen Schluckimpfung von Kind zu Kind verbreiten. Innerhalb eines Jahres verwandelte es sich dann in die virulente Form, schätzen die Experten.
Berechtigte Befürchtungen
Die gute Reichweite der Impfungen in den meisten Gebieten spricht dafür, dass solche Ausbrüche selten sind. Dennoch zeigen zwei weitere kürzliche Ausbrüche - in Ägypten und auf den Philippinen - dass die Befürchtungen der Experten berechtigt sind.

Die große Angst der Mediziner nach den aktuellen Erkenntnissen: Ein Impfstoff-verursachter Ausbruch könnte eine ganze Population von Kindern, die komplett empfänglich sind, gefährden, so z.B. in den Vereinigten Staaten, die seit Jahrzehnten als frei von Polio gelten.
Synchronisierte Impfwellen und Rückzug
Um das zu verhüten, müsse die OPV Kindern in "ungeimpften" Bereichen so schnell wie möglich in synchronisierten Wellen gegeben werden, meint Kew.

Anschließend müsse der Impfstoff augenblicklich vom Gebrauch zurückgezogen werden. "Der weitere Gebrauch der OPV stellt eine Gefahr in sich selbst dar", erläutert der Experte.

"Das bestätigt, was wir schon längst wissen", meint Bruce Aylward von der WHO, der sich auf die Pläne des stufenweisen Rückzugs der Schluckimpfung konzentriert. "Wir haben zudem nun die Überwachung von Polio-Fällen erhöht, um das zu verhindern", fügt er hinzu.
->   WHO - World Health Oraganization
Mehr dazu in science.ORF.at:
->   Das Rennen zur Ausrottung der Kinderlähmung
 
 
 
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01.01.2010