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Eine evolutionäre Zeitmaschine  
  Die Enträtselung aller Mechanismen der Evolution stellt für viele Biologen nach wie vor eine große Herausforderung dar. Jetzt haben sich Wissenschaftler der "Zukunft" der Evolution gewidmet - und ein Modell entwickelt, das Prognosen über die möglichen Entwicklungen von Lebensformen erlaubt. Anwendung finden soll dieser "Blick in die Zukunft" in erster Linie bei der Entstehung neuer Bakterienarten und deren Medikamentenresistenzen.  
Barry Hall von der University of Rochester beschreibt in der aktuellen Ausgabe von "Genetics", wie ein von ihm und seinem Team entwickeltes Modell genaue Prognosen darüber erlaubt, welche Resistenzen ein Bakterienstamm in Bezug auf bestimmte Medikamente entwickeln wird.

Das Modell erlaubt sozusagen die Vorhersage der Evolution eines Bakterienstammes, d.h. welche neuen Bakterienarten aus den bestehenden durch Mutation und Selektion entstehen werden.
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Predicting Evolutionary Potential
Artikel in der Märzausgabe von "Genetics", Bd. 160, S. 823-832 ("Predicting Evolutionary Potential: In Vitro Evolution Accurately Reproduces Natural Evolution of the TEM ß-Lactamase"); der Volltext ist kostenpflichtig.
->   Abstract des Artikels in "Genetics" (frei)
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40 Jahre Evolution hochgerechnet
"Antibiotika-resistente Bakterien sind für uns ein perfektes Ziel, an dem wir unser neues Modell testen können", erklärt Hall zu seinen Forschungen.

Die Biologen waren aufgrund des Antibiotikaresistenz-Gens TEM-1, das das erste Mal vor 40 Jahren auftauchte, in der Lage, die Evolution dieses Gens in den letzten 40 Jahren genau nachzuvollziehen.

Für den Test haben Hall und seine Kollegen das von ihnen entwickelte Modell auf dieses Gen angewandt, um zu sehen, zu welchen Formen dieses evoluierte.
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Wie die Evolution arbeitet
Evolution ist ein langsamer Prozess. Eine Mutation im genetischen Code eines Organismus verändert, zum Nach- oder zum Vorteil, Funktionen desselben. Manche Mutationen ermöglichen bestimmten Organismen einen Vorteil gegenüber anderen, wenn sie eine bessere Anpassung an bestimmte Umweltbedingungen gewährleisten.

Ein bekanntes Beispiel ist die Entfernung eines Genes beim Bakterium Escherichia Coli, das es diesem ermöglicht, Milchzucker zu verdauen. Setzt man dann diese veränderten Bakterien Milchzucker aus, dann entwickelt eines von einer Million dieser Bakterien mittels Mutation die Fähigkeit zur Verdauung von Milchzucker zurück.

Durch Selektion entscheidet die Umwelt darüber, ob diese Merkmalsänderung von Vorteil ist, d. h. eine bessere Anpassung an die herrschenden Bedingungen und damit bessere Überlebensmöglichkeiten bietet. Die am besten angepassten Lebewesen hinterlassen mehr Nachkommen, so dass es auf diese Weise allmählich zu einem Wandel der Populationen kommt.
->   Mehr zu Evolution
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Mutation tausender Genvarianten
Im Gegensatz zur herkömmlichen Methode, Bakterien ein Gen wegzunehmen und dann zu schauen, wie es damit in der natürlichen Umwelt zurecht kommt, extrahieren die Biologen um Hall bestimmte Gene, erzeugen davon viele Kopien und produzieren aus jeder Kopie mittels Mutation eine neue Genvariante.

Diese vielen unterschiedlichen Genvarianten werden dann wieder in die Zellen eingeschleust, um zu sehen, wie jede einzelne Variante auf bestimmte Umweltbedingungen reagiert.
Überprüfung der Modellgenauigkeit
Die Wissenschaftler mussten schließlich noch testen, ob der von ihnen im Labor simulierte Evolutionsprozess genau mit den natürlichen Mutationen übereinstimmt.

Erst durch den exakten Vergleich der Labor-Mutationen des 40 Jahre alten, antibiotikaresistenten Gens TEM-1 mit den natürlichen Mutationen dieses Gens in den letzten 40 Jahren, die als Anpassungen an bestimmte Antibiotika entstanden waren, konnten die Wissenschaftler zeigen, wie genau ihr Modell die Evolution von Genen prognostizieren kann.

Die Ergebnisse passten zusammen: Bestimmte im Labor entwickelte Mutationen erhöhten die Resistenz des Gens besser als andere und stimmten genau mit den in der Natur stattgefundenen Mutationen überein.
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Mutationen
... eine erbliche Änderung der Eigenschaften eines Lebewesens. Mutationen treten spontan auf oder unter dem Einfluss von Mutagenen. Spontane Mutationen sind ein Evolutionsfaktor.

Chemisch ist eine Mutation eine Änderung der vorliegenden Nukleinsäuresequenz der Erbsubstanz. Genmutationen entstehen durch Einbau von Basenanalogen oder durch Veränderung der Basen innerhalb eines Gens. Chromosomenmutationen verändern die Struktur von Chromosomen. Genommutationen verändern die Zahl ganzer Chromosomen oder Chromosomensätze.

Spontane Mutationen treten mit einer Häufigkeit von einer Mutation auf 10.000 bis eine Milliarde Individuen auf. Untersuchungsobjekte der Mutationsforschung sind vor allem Bakterien, Pilze und die Fliege Drosophila.
->   Mehr zu Mutationen
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Testmöglichkeit für Pharmafirmen
Das Ergebnis aus den Versuchen von Hall gibt jetzt Biologen die Möglichkeit, Antibiotikaresistenzen mit im Labor simulierten Evolutionsprozessen zu evaluieren.

Die Mutationen von Bakterien-Schlüsselgenen im Labor und die Konfrontation dieser Gene mit neuen Antibiotika wird zeigen, ob und wie bestimmte Bakterienarten wahrscheinlich evoluieren werden, um diese Antibiotika "zu umgehen".

Dieses Modell stellt auch eine Testmodul für Pharmafirmen dar, die herausfinden wollen, wie lange ihre neuen Medikamente bestimmte Bakterienstämme effizient bekämpfen können, bevor diese Resistenzen entwickeln.
Neue Wege Bakterien zu bekämpfen
"Das Bekämpfen von Bakterienstämmen erfolgte bis jetzt so, dass wir ein Medikament entwickelten. Nach einer gewissen Zeitspanne - wenn der jeweilige Stamm dagegen Resistenzen entwickelt hatte - veränderten wir das ursprüngliche Medikament zu einer neuen Variante", beschreibt Hall frühere Strategien.

"Aber wenn wir prognostizieren können, wie bei Bakterienstämmen mit den Mitteln der Evolution Resistenzstrategien entstehen, so können wir jetzt erstmals einen Weg finden, diese Resistenzstrategien von vornherein zu umgehen", resümiert der Biologe über die neuen Einsatzmöglichkeiten seines Modells.
->   Biology Department, University of Rochester
 
 
 
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01.01.2010