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Lebensgeschwindigkeit: Eine Frage der Kultur  
  Langsames Flanieren am Trottoir oder hektisches Eilen am Bürgersteig: Die "Lebensgeschwindigkeit" zeigt in verschiedenen Kulturräumen große Unterschiede - gleichgültig in welchen Bereichen des Alltags. Wie ein amerikanischer Sozialpsychologe belegte, folgen dabei urbane, industrialisierte und individualistische Gesellschaften dem schnellsten Rhythmus.  
Lehren aus Brasilien
Der amerikanische Sozialpsychologe Robert Levine stieß im Sommer 1976 im Zuge eines Lehrauftrages an der Universität von Niteroi, Brasilien, auf eine Eigentümlichkeit der brasilianischen Lebensweise. Typisch angloeuropäische Tugenden wie Pünktlichkeit und Verlässlichkeit schienen, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle zu spielen.
Cum tempore
In seinem Buch "Eine Landkarte der Zeit" schreibt er: "Mein Seminar sollte von 10 bis 12 Uhr dauern. Viele Studenten kamen zu spät. Einige kamen erst nach 10.30 Uhr. Vereinzelt tröpfelten sie noch kurz vor 11 Uhr herein. Und zwei sogar danach. Alle Nachzügler hatten ein entspanntes Lächeln auf den Lippen und gingen davon aus, dass ich Verständnis dafür hätte."

"Als es 12 Uhr war, gingen nur ein paar Studenten pünktlich weg. Andere schlenderten im Laufe der nächsten Viertelstunde gemütlich hinaus, und manche blieben noch deutlich länger, um mir Fragen zu stellen."
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"Eine Landkarte der Zeit" von Robert Levine erschien 1997 im Piper-Verlag.
->   Mehr zum Buch - Piper
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Geschwindigkeits-Maße
Aufgrund dieser und ähnlicher Erfahrungen wechselte Levine sein Forschungsgebiet und konzentrierte sich fortan auf die kulturellen Aspekte des Umganges mit der Zeit. Dabei konnte er einige verlässliche Maße für die Lebensgeschwindigkeit finden.

Für interkulturelle Untersuchungen des "Pace of Life" wurden folgende Parameter herangezogen: Die Gehgeschwindigkeit von Passanten, die Arbeitsgeschwindigkeit am Arbeitsplatz und die Genauigkeit öffentlicher Uhren.

Auf diese Weise wurde der Versuch unternommen, die Lebensart völlig verschiedener Kulturen mit dem reduzierten Betrachtungsschema der quantifizierenden Wissenschaften zu erfassen.
Tendenz: Je industrialisierter, desto schneller
Robert Levine fand verlässliche Korrelationen zwischen folgenden Größen: "Menschen in Regionen mit einer blühenden Wirtschaft, einem hohen Industrialisierungsgrad, einer größeren Einwohnerzahl, einem kühleren Klima und einer auf den Individualismus ausgerichteten kulturellen Orientierung bewegen sich tendenziell schneller", so der Studienautor.
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Korrelation
Der Korrelationskoeffizient ist eine statistische Größe, die Auskunft über die Stärke des Zusammenhanges zwischen Merkmalen gibt. Ein positiver Zusammenhang (zwischen 0 und +1) bedeutet, dass hohe Ausprägungen auf dem einen Merkmal mit einer hohen Ausprägung des anderen Merkmals einhergehen. Über Ursachen und Wirkungen dieses Wechselbezuges gibt der Korrelationskoeffizient keine Auskunft.
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Levines Rangliste: Schweiz am genauesten
In einer großangelegten Studie von 31 Ländern belegte die Schweiz vor Irland, Deutschland und Japan den ersten Platz. Österreich kam auf Rang 8, die USA belegten nur Platz 16. Die drei letzten Ränge nahmen Brasilien, Indonesien und Mexiko ein.

Nicht überraschend ist die Tatsache, dass die Schweiz ihren ersten Platz durch einen überlegenen Sieg in der Kategorie "Genauigkeit öffentlicher Uhren" feiern konnte. Auch der letzte Rang von Mexiko erfüllt die intuitiven Erwartungen, unterscheiden doch die Mexikaner zwischen der 60-minütigen "hora inglese" und der "hora mexikana", die einer etwas gedehnteren Metrik gehorcht.
Wohin ist La Dolce Vita entschwunden?
Die Studie bestätigte auch jene Erfahrungen, die Levine mehr als 10 Jahre zuvor als junger Lektor an der brasilianischen Universität gemacht hatte, wie er in seinem Buch schildert: "Ein Herr ohne Uhr, den ich nach der Zeit fragte, sah mich an und erklärte stolz, es sei 'genau 14.14 Uhr.' Er lag mehr als drei Stunden daneben."

Die Levineschen Daten geben uns Auskunft, in welchen Ländern Exaktheit, Tempo und Stress einen großen Einfluss und Stellenwert haben. Sie zeigen aber auch, in welchen Ländern jener Lebensstil zu Hause ist, den viel von uns vermissen.

"Ach, wohin sind die Flaneure von gestern verschwunden?", fragt Buchautor Levine mit den Worten von Milan Kundera - und gibt uns auch die Antwort: "Viele von ihnen sind, das kann man getrost sagen, auf den Straßen von Jakarta, Rio de Janeiro und Mexiko City zu finden."
Tempo als Zeichen des sozioökonomischen Status
Einen völlig anderen Zugang zum Thema Lebensgeschwindigkeit hat Klaus Atzwanger, ein Wiener Verhaltensforscher vom Institut für Anthropologie, gefunden. Er untersuchte ebenfalls die Gehgeschwindigkeit von Passanten, allerdings unter biologischen Gesichtspunkten.

Ein Ergebnis dieser Studien war, dass die Gehgeschwindigkeit bei Männern stark mit einer guten Ausbildung, hohem Einkommen und Berufsprestige korreliert, bei Frauen hingegen nicht.

"Dies deutet darauf hin, dass damit eine der Voraussagen der Theorie der sexuellen Selektion bestätigt wird. Männer verwenden offenbar die Gehgeschwindigkeit als unbewusstes Signal ihres sozioökonomischen Status."

"Das bedeutet aber weder, dass wir solche Zusammenhänge gut heißen, noch dass sie so bleiben sollen. Mein Ziel ist es vielmehr, alle verhaltensbestimmenden Größen des Gehens in urbanen Umwelten zu erfassen", so Atzwanger im Gespräch mit science.ORF.at.
Rangliste Nr.2
Atzwanger hat auch eine Untersuchung der Lebensgeschwindigkeit im deutschen Sprachraum durchgeführt. Diese hat ergeben, dass das Leben in nördlich gelegenen Städten tendenziell schneller ist, als im Süden, was die Levinesche Klima-These bestätigt.

Wien erwies sich übrigens im Vergleich zu den deutschen Städten als äußerst langsam. Dieses Ergebnis kann mit dem Prädikat "erwartungsgemäß" zur Kenntnis genommen werden.

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Home-Page von Klaus Atzwanger
 
 
 
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01.01.2010