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Geburt als Lifestyle-Ereignis  
  Bauchtanzend, unter Wasser oder per Wunschkaiserschnitt - in unseren Breiten wird die Geburt eines Menschenkindes zunehmend als Lifestyle-Event inszeniert. Eine Ausstellung in Wien dokumentiert die kulturellen Prägungen dieses vermeintlich so natürlichen Ereignisses.  
Schmerzhafte Angelegenheit ...
Ein Kind auf die Welt zu bringen ist seit Urzeiten eine schmerzhafte und risikoreiche Angelegenheit. Denn die Natur hat den Platz für die Passage des kindlichen Kopfs durch das mütterliche Becken äußerst knapp bemessen.
... und (zum Teil) erleichternde Maßnahmen
Kein Wunder also, dass die Suche nach geburtserleichternden Maßnahmen eine Konstante der Menschheitsgeschichte darstellt: Im antiken Griechenland entbanden die Damen der Oberschicht auf Gebärstühlen. Die Frauen so genannter Naturvölker stützen sich während der Geburt auf Pfähle, lehnen sich an Baumstämme oder klammern sich an herabhängende Seile.

Die westliche Schulmedizin verfrachtete gebärende Frauen im Namen der Sicherheit in die Horizontale. Berichte von operativen Entbindungen sind zwar schon aus der Antike überliefert, doch erst seit dem 17. Jahrhundert gelingt es, mit einem solchen Eingriff nicht nur das Kind, sondern auch die Mutter zu retten.
Geburt heute: Event-Charakter
Ein schönes Geburtserlebnis heute? Noch vor wenigen Generationen waren Schwangerschaft und Geburt die größten Gesundheitsrisiken im Leben einer Frau. Dafür waren nicht allein die anatomischen Widrigkeiten verantwortlich, sondern in hohem Maße auch mangelnde Hygiene der Geburtshelfer.

Doch je sicherer die Entbindung für Mutter und Kind wurde und je eher die Auseinandersetzungen zwischen Alternativ- und Schulmedizinern beigelegt wurden, desto mehr verstärkte sich der Event-Charakter des Ereignisses Geburt.
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Ausstellung in Wien
Am 10. April öffnet die Ausstellung "Aller Anfang. Geburt - Birth - Naissance" am Volkskundemuseum in Wien. Neben Objekten aus der Volks- und Heilkunde sowie der Medizin werden Veranstaltungen präsentiert, die sich mit Themen wie Geburt als Lifestyle-Event, als Teil der Kunst, in der Mythologie sowie der Zukunft der Fortpflanzung und der Geburt beschäftigen.
->   Museum für Volkskunde
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Suche nach der perfekten Geburt
Wie ein Kind zur Welt kommen soll und in welcher Weise sich seine Mutter auf diesen Moment vorbereitet, ist heute letztlich eine Frage des Lebensstils. Ob bauchtanzend, mit Hilfe von Yoga oder Akupunktur, unter Wasser oder per Wunschkaiserschnitt - werdende Eltern stoßen kaum noch auf Widerstände durch das Fachpersonal, wenn es darum geht, ihre Vorstellungen von einer perfekten Geburt zu inszenieren.

Im Gegenteil: Ärzte und Hebammen haben das steigende Bedürfnis von Schwangeren, die Geburt zu einem einzigartigen, positiven Ereignis werden zu lassen, längst erkannt und entsprechend darauf reagiert. Das Angebot an geburtserleichternden Maßnahmen und Hilfsmitteln nimmt die Ausmaße eines Supermarktsortiments an.
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Supermarktsortiment
Je nach Vorliebe können Geist und Körper mit autogenem Training, Akupunktur, Yoga, Gymnastik, Bauchtanz, Trocken- oder Unterwasser-Shiatsu auf die Stunde null eingestimmt werden. Ist es dann so weit, stehen den Kreißenden in spezialisierten Kliniken Entspannungsbälle, Gebärhocker, Gebärmatten, Gebärbadewannen und Gebärlandschaften zur Verfügung.
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Überwindung der männlichen Geburtshilfe
Der Kampfgeist vergangener Jahrzehnte scheint sich erübrigt zu haben. In nur wenigen Jahren hatten Frauen mit großem Selbstbewusstsein die über Jahrhunderte männlich dominierte Geburtshilfe ordentlich über den Haufen geworfen.

Heute ist vieles, womit alternative Geburtshäuser noch vor fünfzehn Jahren für helle Aufregung sorgten - etwa die Anwesenheit des Vaters bei der Geburt, individuelle Gebärstellungen oder Rooming-in -, auch an herkömmlichen Geburtenstationen selbstverständlich.
Frauenrecht: Kaiserschnitt auf Wunsch
Unterdessen markiert eine neue Generation von Schwangeren eine weitere Trendwende: Der Kaiserschnitt auf Wunsch, ohne medizinische Indikation, gilt immer mehr Frauen als Inbegriff einer menschenwürdigen Niederkunft. In den USA wird dieser sogar schon von Feministinnen als Frauenrecht eingefordert, nicht zuletzt mit der Begründung, diese Form der Entbindung lasse das
weibliche Sexualorgan unversehrt.

In erster Linie ist es aber immer wieder das Bedürfnis nach größtmöglicher Sicherheit, welches dazu führt, dass immer häufiger ein Kaiserschnitt eingefordert wird.
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15 Prozent Kaiserschnitt
Im Bundesdurchschnitt kommen derzeit rund fünfzehn Prozent der Kinder auf diesem Wege auf die Welt, an manchen Privatkliniken sind es bis zu 38 Prozent.
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Polarisierung werdender Mütter
Der Wiener Gynäkologe Johannes Pollak, Oberarzt an der Semmelweisklinik, beobachtet bei werdenden Müttern eine zunehmende Polarisierung: Die einen schwören auf eine natürliche Geburt und nehmen - aus der Sicht des Mediziners - dafür ein übertriebenes Risiko in Kauf. Andere wollen noch vor Einsetzen der Wehen per Kaiserschnitt auf Nummer sicher gehen.
Sorgen der Hebammen
Den Trend zum Wunschkaiserschnitt beobachten Hebammen naturgemäß mit Bedauern. So befürchtet Renate Großbichler, Präsidentin des österreichischen Hebammen-Gremiums, dass die Interessen des Kindes zunehmend auf der Strecke bleiben.

"Die erste Entscheidung im Leben eines Menschen ist jene, wann er geboren wird", erinnert Großbichler und plädiert dafür, diese den Ungeborenen möglichst zu lassen.

Aber nicht nur wegen der körperlichen Anpassung an die neue Umgebung hält es Großbichler für
entscheidend, während der Geburt erstmals Stress zu erfahren. Ihr geht es um die Lösung für eine erste Problemstellung: "Wie komme ich da durch?"
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Radio-Tipp
Die Ö1-Sendereihe "Diagonal" widmet sich dem Thema "Geburt" am 13. April 2002 um 17.05 Uhr.
->   Radio Österreich 1
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Geburtsschmerz als Urerfahrung ...
Ob und wie sehr der Geburtsverlauf einen Menschen beeinflusst, ist in erster Linie Gegenstand von Spekulationen. Bezeichnenderweise war eine schmerzfreie Geburt seit jeher verpönt: Laut Volksmund kann eine Mutter, die ihr Kind ohne Schmerzen geboren hat, dieses nicht richtig lieben. In dunkler Vorzeit hieß es gar, ohne Schmerzen geborene Kinder würden zu Werwölfen oder Hexen.
... das macht verdächtig
Aber auch im aufgeklärten Zeitalter bleibt schmerzfreies Gebären verdächtig. Ludwig Janus, Präsident der Internationalen Studiengemeinschaft für Pränatale und Perinatale Psychologie, hält den Geburtsschmerz für durchaus bedeutungsvoll.

Die Geburt als "Urerfahrung mit dem Weltenwechsel" sei, so Janus, entscheidend für den weiteren Umgang mit Veränderungen. Hier werden Muster geprägt: War es ein Kampf, eine Heimsuchung, ein Abenteuer?
Negative Auswirkungen ...
Der Trend zum geplanten Kaiserschnitt, sind sich Psychotherapeut Janus und Hebamme Großbichler einig, könnte ungeahnte Auswirkungen haben. Die Kinder, die ohne eigenes Zutun aus Mutters Bauch geholt würden, gingen das Leben - so die Beobachtung - gern nach der Devise an: "Ich warte, bis irgendwann Hilfe von außen kommt."
... empirisch nicht untermauert
Empirisch untersucht sind derlei Hypothesen noch nicht. Die Entwicklungspsychologie hat sich der vorgeburtlichen Phase und der Geburt bisher nicht angenommen. Beobachtungen und Thesen beruhen auf therapeutischen, nicht akademischen Erfahrungen.

Nicht zuletzt deswegen, vermutet Janus, weil es gar kein Interesse an der Frage gäbe, ob Wehentropf oder Kaiserschnitt einen Menschen für den Rest seines Lebens prägen können.

Irene Jancsy, "Universum Magazin"
Mehr über Geburt lesen Sie in der aktuellen Ausgabe des "Universum Magazins":
->   Universum Magazin
->   Mehr über Schwangerschaft in science.ORF.at
Vom 14. bis 18. April findet der "26. Kongress des Internationalen Hebammenverbandes" in Wien statt:
->   Hebammenkongress
->   Österreichisches Hebammengremium
 
 
 
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01.01.2010