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Ein Leben für die Islamwissenschaft: Annemarie Schimmel wird 80  
  Annemarie Schimmel, Orientalistin von Weltrang, feiert am Sonntag in Bonn ihren 80. Geburtstag. Die gebürtige Erfurterin, die viele Jahre an der Universität Bonn lehrte, blickt auf eine beeindruckende wissenschaftliche Karriere zurück: Rund 100 Bücher hat sie veröffentlicht. Ihre Verdienste um die islamische Kultur wurden mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen gewürdigt.  
Unter anderem erhielt sie 1995 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In der Begründung zur Verleihung des Preises hieß es, inmitten erschreckender Signale des religiösen Fanatismus sei die Auszeichnung als ein Zeichen für die Begegnung, nicht für die Konfrontation der Kulturen zu verstehen.
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Streit um Preisverleihung
Die Preisverleihung des Friedenspreises war allerdings heftig umstritten, weil Schimmel in einem Fernsehinterview den Schriftsteller Salman Rushdie kritisiert hatte. Er habe in seinem Roman "Die satanischen Verse" die Moslems "auf sehr üble Art" verletzt, hatte sie damals gesagt. Gegner und Befürworter der Friedenspreisträgerin lieferten sich daraufhin monatelang eine hitzige kulturpolitische Debatte. Kritker warfen ihr vor, sie habe auf diese Weise die Fatwa gegen Rushdie verteidigt.

In ihrer Rede anlässlich der Preisverleihung erklärte Schimmel, sie habe nicht auf den Preis verzichtet, weil sie sich "den Orientalisten, die sich um den stillen Dialog bemühen, verpflichtet fühle, ebenso wie allen Menschen guten Willens in der islamischen Welt, und dem Werk der Verständigung, für das ich ein halbes Jahrhundert gelebt habe."
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Lebenswerk: Verständigung zwischen Ost und West
Nach Ansicht Annemarie Schimmels ist der Islam die "am meisten angegriffene und missverstandene" aller Religionen. Ihr Lebenswerk habe sie deshalb der Verständigung zwischen Ost und West geweiht, wie die Orientalistin immer wieder betont hat.
Zahlreiche Ehrungen der arabischen Welt
Für dieses Ziel wurden ihr zahlreiche Ehrungen der arabischen Welt zuteil: 1996 wurde ihr von Ägyptens Präsident Hosny Mubarak für ihr "Bemühen um ein ausgeglichenes Bild des Islam in der westlichen Welt" die "Medaille für Wissenschaft und Literatur" ersten Ranges verliehen.

1997 wurde die Wissenschaftlerin für ihre "außerordentlichen Verdienste um den Islam in Europa" zum Ehrenmitglied des Zentralrates der Muslime in Deutschland ernannt. Im pakistanischen Lahore ist seit einigen Jahren ein Boulevard nach ihr benannt.
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Biografisches zu Annemarie Schimmel
Die arabische Sprache erlernte Annemarie Schimmel bereits als 15-Jährige. Während des Studiums folgten Türkisch, Persisch und andere orientalische Sprachen. Nach dem Studium der Arabistik und Islamwissenschaft promovierte sie in Berlin und habilitierte sich 1946 an der Universität München.

Sie lehrte in Marburg, bevor sie 1954 als Professorin für Religionsgeschichte an die Islamisch-Theologische Fakultät der Universität Ankara berufen wurde. 1961 erhielt sie eine Professur in Bonn, von 1967 an war sie außerdem Dozentin für indo-muslimische Kultur an der Harvard- Universität in den USA.

Einer ihrer Forschungschwerpunkte ist die islamische Mystik. Schimmels Buch "Mythische Dimensionen des Islam" gilt in Fachkreisen als Standardwerk. Aus mehreren orientalischen Sprachen hat die Wissenschaftlerin zudem tausende Verse und Gedichte von Volksdichtern übersetzt.
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Eine Liebesgeschichte mit dem Orient
Unumstritten war ihr Islam-Verständnis, das sie als "Liebesgeschichte zwischen mir und dem Orient" beschreibt, allerdings nie - nicht bei westlichen Wissenschaftlern und auch nicht bei Muslimen.

"Es gibt für jede Religion Schlüssel, aber ich glaube, dass wir über die Mystik einen leichteren Zugang gewinnen können", sagte Schimmel bei der Friedenspreisverleihung. Mystik, die Suche des Menschen nach Gott durch Askese, Gebete, Tänze und vor allem Liebe, sei das innere Leben des Islam.
Schimmel, der Islam und die Politik
Als Schimmel begann, sich mit dem Islam zu befassen, spielte denn auch seine politische Dimension kaum eine Rolle. Die Wissenschaftlerin hat sich nie primär mit dem Fundamentalismus befasst, sondern mit dem "gelebten Islam des Volkes".

Dennoch, ihre Bemühungen um einen Dialog zwischen Ost und West erscheinen - seit den Anschlägen des 11. September - erneut als politisch hochaktuell. Auch wenn sie selbst sich als "unpolitisch im Sinne der Tagespolitik" bezeichnet hat.

In ihrer Rede als Friedenspreisträgerin sagte sie 1995, die Akzeptanz des Gegenübers sei die Grundlage des Dialoges. Dies gelte auch im Verhältnis des Westens zur islamischen Welt - "so sehr auch nach dem Ende des Ost-West Konfliktes der Islam zum neuen Feindbild zu werden droht."
Eine Presseschau zum 80. Geburtstag von Annemarie Schimmel:
->   Süddeutsche Zeitung: Gelebter Islam
->   Neue Zürcher Zeitung: Daheim in mehr als einer Welt
->   FAZ: In einer Freundschaft wie dieser geht es nicht um Glück
 
 
 
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01.01.2010