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Ein Brief von US-Bürgern: An unsere Freunde in Europa  
  Nach den Selbstmordanschlägen auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington am 11. September 2001 erklärte US-Präsident George W. Bush einen zeitlich unbegrenzten "Krieg gegen den Terrorismus". Dieser Krieg kennt keine klaren Grenzen, weder räumlich, noch zeitlich, noch, was das Ausmaß an Zerstörung betrifft.  
Derzeit kann niemand vorhersagen, welches Land noch in den Verdacht geraten kann "Terroristen" zu beherbergen oder zur "Achse des Bösen" zu zählen. Die Ausrottung des "Bösen" könnte viel länger dauern, als die Welt den dabei angewendeten Zerstörungskräften widerstehen kann. Schon jetzt setzt das Pentagon aus seinem immer perfekteren Arsenal des Schreckens Bomben ein, deren Auswirkungen einem Erdbeben gleichen, und zieht ganz offiziell den Einsatz von Nuklearwaffen in Betracht.

Die absehbare materielle Zerstörung geht ins Unermessliche. Dasselbe gilt für die menschlichen Verluste, nicht nur an Leben, sondern auch im Hinblick auf die Verzweiflung und den Hass von Millionen Menschen, die hilflos zusehen müssen, wie ihre Welt von den Vereinigten Staaten verwüstet wird, einem Land, das seine moralische Autorität für ebenso absolut und unanfechtbar hält wie seine militärische Macht.
Als Bürger der Vereinigten Staaten tragen wir eine besondere Verantwortung, uns dem Wahnsinn dieser kriegerischen Entwicklung zu widersetzen. Eine besondere Verantwortung fällt aber auch Ihnen als Europäer zu. Denn die meisten europäischen Staaten sind im Rahmen der NATO mit den USA militärisch verbündet.

Die Vereinigten Staaten behaupten, der Krieg diene der Selbstverteidigung, aber zugleich auch, er werde zum Schutz der "Interessen ihrer Verbündeten und Freunde" geführt. Ihre Länder werden zwangsläufig in die militärischen Abenteuer der USA hineingezogen werden. Auch Ihre Zukunft ist in Gefahr!
Viele informierte Menschen innerhalb wie außerhalb der europäischen Regierungen sind sich der des gefährlichen Irrsinns der von der Bush-Administration eingeschlagenen Kriegspolitik bewusst. Aber nur wenige haben den Mut, dies auch ehrlich auszusprechen. Sie lassen sich von den möglichen Vergeltungsmaßnahmen gegen "Freunde" und "Verbündete" einschüchtern, die ihre bedingungslose Unterstützung aufkündigen.

Außerdem haben sie haben Angst davor, als "antiamerikanisch" zu gelten, letzteres eine Bezeichnung, mit der absurderweise auch US-Amerikaner gebrandmarkt werden, die die Kriegspolitik kritisieren und deren Protest durch die chauvinistische Hetze unterdrückt wird, die einen Großteil der US-Medien beherrscht. Rationale und offen vorgetragene europäische Kritik an der Politik der Bush-Administration könnte dazu beitragen, den gegen den Krieg eingestellten Amerikanern im eigenen Land Gehör zu verschaffen.
Die Verherrlichung der Macht ist vielleicht die älteste Berufung der Dichter und Schriftsteller dieser Welt. Als stärkste Weltmacht ziehen die Vereinigten Staaten natürlich besonders viele Schmeichler an, die die politischen Führer der des Landes dazu drängen, in der Anwendung militärischer Mittel immer weiter zu gehen, um einer widerstrebenden Welt Tugend einzubläuen. Das Thema ist uralt und immer gleich: die große Güte der Mächtigen soll den Machtlosen mit Gewalt aufgezwungen werden.

Der größte Trugschluss der Apologeten der US-Kriegspolitik ist die Gleichsetzung der "amerikanischen Werte", so wie sie in unserem Land verstanden werden, mit der Ausübung von wirtschaftlicher und vor allem militärischer Macht der USA im Ausland.
Selbstverherrlichung ist ein berüchtigtes Wesensmerkmal der US-amerikanischen Kultur, das in einer Einwanderungsgesellschaft eine nützliche Rolle bei der Assimilierung neuer Bürger spielen mag. Aber leider hat der 11. September hier zu beispiellosen Extremen geführt.

Das hat zur Folge, dass die unter US-Bürgern weitverbreitete Illusion verstärkt wird, die ganze Welt orientiere sich voll Bewunderung oder Neid an den Vereinigten Staaten fixiert, so wie diese sich selbst sehen: als wohlhabend, demokratisch, großzügig, gastfreundlich und offen für alle Rassen und Religionen, als Inbegriff universeller menschlicher Werte und letzte und beste Hoffnung der Menschheit.

In diesem ideologischen Kontext gibt es auf die nach dem 11. September gestellte Frage: "Warum hassen sie uns?" nur eine Antwort: "Weil wir so großartig sind!" Oder entsprechend der allgemein verbreiteten Behauptung: Sie hassen uns wegen "unserer Werte".
Die meisten US-Bürger haben keine Ahnung, dass die Außenpolitik der USA nichts mit den bei uns so gefeierten "Werten" zu tun hat, sondern im Gegenteil oftmals dazu dient, Menschen in anderen Ländern die Möglichkeit vorzuenthalten, diese "Werte" ebenfalls zu genießen, sollten sie einmal den Versuch unternehmen, dies zu tun.

Die Machtpolitik der USA hat in Lateinamerika, Afrika und Asien meist dazu gedient, die Überbleibsel der Kolonialherrschaft und verhasste Diktatoren an der Macht zu halten, für die Wirtschaft dieser Länder verheerende wirtschaftliche und finanzielle Bedingungen aufzuzwingen, repressive Militärkräfte zu unterstützen, unabhängige Regierungen zu stürzen oder durch Sanktionen in den Würgegriff zu nehmen, und als letztes Mittel Bomben und Raketen gegen sie loszuschicken, die Tod und Verderben auf sie herab regnen lassen.
Das "Recht auf Selbstverteidigung"
a. Wessen Recht?

Die Vereinigten Staaten fühlen sich seit dem 11. September einem Angriff ausgesetzt. Daraus schließt die Regierung auf ein "Recht auf Selbstverteidigung" und meint nun, ohne Schuldnachweis oder rechtliche Prozedur Krieg nach ihren Bedingungen und eigener Wahl gegen jedes Land führen zu können, das sie als Feind bezeichnen.

Dieses "Recht auf Selbstverteidigung" galt natürlich nie für Länder wie Vietnam, Laos, Kambodscha, Libyen, Sudan oder Jugoslawien, wenn diese von den USA bombardiert wurden. Dies ist eben das Recht des Stärksten, das Gesetz des Dschungels. Die Ausübung eines "Rechts", das allen anderen verwehrt wird, kann niemals "universellen Werten" dienen, sondern untergräbt in Wirklichkeit jeden Begriff einer Weltordnung, die auf universellen Rechten beruht und allen gleichermaßen den Anspruch auf rechtliche Mittel zugesteht. Ein "Recht", das nur von einem - dem Stärksten - beansprucht werden kann, ist kein Recht sondern ein Privileg zum Nachteil der Rechte anderer.
b. Wie wollen die Vereinigten Staaten sich "verteidigen"?

Die Vereinigten Staaten haben, angeblich zur "Selbstverteidigung", einen Krieg gegen Afghanistan begonnen. Das war keine spezifisch Reaktion auf die beispiellosen Ereignisse vom 11. September. Im Gegenteil, es war genau das, was die Vereinigten Staaten, wie Dokumente aus dem Pentagon belegen, schon vorher in Gang gesetzt und geplant hatten: die Bombardierung anderer Länder und der Einsatz von Militärkräften auf fremdem Boden zum Sturz der jeweiligen Regierungen.

Die Vereinigten Staaten planen ganz offen einen allumfassenden - selbst den Einsatz von Nuklearwaffen in Betracht ziehenden - Krieg gegen den Irak, ein Land, das sie seit über zehn Jahren immer wieder mit dem erklärten Ziel bombardiert haben, die dortige Regierung durch von Washington ausgewählte Führer zu ersetzen.
c. Was genau wird "verteidigt"?

Was verteidigt wird, hat etwas mit dem zu tun, was angegriffen wurde.

"Verteidigung" bedeutet im normalerweise die Verteidigung des nationalen Territoriums. Und tats¿lich fand am 11. September ein Angriff auf und gegen US-Territorium statt. Es war kein konventioneller Angriff seitens eines m¿tigen Staats, um Land zu erobern, sondern ein anonymer Anschlag auf bestimmte, zur Zielscheibe erkorene Institutionen. Da sich niemand zu den Anschl¿n erkannt hat, sollte der Symbolcharakter der Ziele vermutlich f¿r sich selbst sprechen. Das World Trade Center symbolisiert die globale wirtschaftliche, das Pentagon die milit¿sche Macht der USA. Demnach ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Anschl¿ vom 11. September sich symbolisch gegen "amerikanische Werte" gerichtet haben, wie sie in den Vereinigten Staaten gefeiert werden.

Statt dessen scheint die wirtschaftliche und milit¿sche Macht der USA, so wie sie sich im Ausland darstellt, das wahre Ziel der Anschl¿ gewesen zu sein. Berichten zufolge waren 15 der 19 identifizierten Flugzeugentf¿hrer Saudi-Araber, die der Pr¿nz von US-Milit¿asen auf saudischem Boden feindlich gegen¿berstehen. Die Ereignisse des 11. September legen den Schluss nahe, dass die Nation, die andere L¿er so stark ihre Macht sp¿ren lasst, selbst im Inneren verwundbar ist. Aber die wirkliche Frage ist die der US-Interventionen im Ausland. Tats¿lich verfolgen die Kriege Bushs genau die Absicht, die US-Macht im Ausland zu behaupten und zu st¿en. In diesen Kriegen wird die weltweite Projektion der Macht der USA verteidigt, nicht die Freiheit der Amerikaner und ihr Lebensstil.

In Wirklichkeit schw¿en Kriege im Ausland die von den US-B¿rgern gesch¿ten Werte, statt sie zu verteidigen oder gar auszubreiten. Aber Regierungen, die Aggressionskriege f¿hren, werben immer um Unterst¿tzung, indem sie die B¿rger davon ¿berzeugen versuchen, dass der Krieg notwendig ist, um edle Ideale zu verteidigen oder zu verbreiten. Der Hauptunterschied zwischen den imperialen Kriegen der Vergangenheit und dem globalen Machstreben der Vereinigten Staaten heute liegt in der um ein Vielfaches gr¿¿ren Zerst¿rungskraft, die nun zur Verf¿gung steht.

Das Missverh¿nis zwischen der materiellen Zerst¿rungskraft und der konstruktiven Kraft menschlicher Weisheit war noch nie so gro¿und gef¿lich. Die Intellektuellen k¿nnen w¿en, ob sie sich dem Chor jener anschlie¿n m¿chten, die die brutale Anwendung von Macht verherrlichen, indem sie ihr "geistige Werte" andichten, oder ob sie die schwierigere und wichtigere Aufgabe ¿bernehmen wollen, die arrogante Torheit der M¿tigen zu entlarven und mit der gesamten Menschheit zusammenzuwirken, um Wege einem vern¿nftigen Dialog, gerechten wirtschaftlichen Beziehungen und Gerechtigkeit f¿r alle zu finden.

Das Recht auf Selbstverteidigung muss ein kollektives Menschenrecht sein. Die Menschheit als Ganzes hat das Recht, ihr eigenes ¿erleben gegen die "Selbstverteidigung" einer keinen Beschr¿ungen unterworfenen Supermacht zu verteidigen. Seit einem halben Jahrhundert haben die Vereinigten Staaten wiederholt ihre Gleichg¿ltigkeit gegen¿ber Tod und Zerst¿rung demonstriert, die ihre eigenm¿tigen Bem¿hungen zur Weltverbesserung stets begleitet haben. In unseren reichen L¿ern k¿nnen wir nur durch unsere Solidarit¿mit den Opfern der Milit¿acht der USA jene universellen Werte verteidigen, von denen wir behaupten, dass sie uns so lieb und teuer sind.
 
 
 
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01.01.2010