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Herzl-Symposium: Diaspora und Heimat  
  Das vierte internationale Theodor-Herzl-Symposium ist am Donnerstag in Wien zu Ende gegangen. Gewidmet war das Symposium dem Thema der Diaspora: 2.000 Jahre lang lebten die Juden in aller Welt zerstreut. Die politische und geistige Heimat Israel hat Wesen und Charakter der Diaspora verändert, doch gegenwärtig lebt mehr als die Hälfte aller Juden in der Diaspora.  
Multiple Heimat ...
Wie sagt man Heimat im Plural? Danach fragt der Historiker Moshe Zimmermann. Er lehrt an der Hebräischen Universität Jerusalem. Man könne in mehr als einer Heimat verwurzelt sein. Heimaten können sich laut Zimmermann addieren und über Generationen weitergegeben werden.
... und symbiotische Heimat
Symbiose als Begriff aus den Naturwissenschaften eigne sich nicht, um eine Gesellschaft zu beschreiben, so der Historiker weiter. Denn: Eine biologistische Beschreibung von Gesellschaft sei gefährlich, das habe die Geschichte gezeigt.

Im übertragenen Sinn ist der Begriff Symbiose positiv besetzt. Zimmermann verwendet ihn für das Zusammenleben von Juden und Nicht-Juden im deutschsprachigen Raum bis 1933.
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Kritik: Einseitige Symbiose-Versuche
Zimmermanns Symbiose-Ansichten werden allerdings von Teilnehmern des Herzl-Symposiums kritisiert, ein Zuhörer meint beispielsweise, Symbiose beschreibe einen beidseitigen Prozess. Aber: Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts wollten Juden Deutsche sein und die Deutschen hätten das nicht zugelassen.

Kritik meldet auch Haim Avni in seiner Rede an. Avni lehrt moderne jüdische Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem: "Wir sollten nicht darauf achten, was Juden als ihre symbiotische Heimat betrachten, sondern was die Allgemeinheit als ihre Heimat betrachtet. Das gilt für Juden, genauso wie für andere Minderheiten."
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Die Assimilation des Judentums
Der Historiker Moshe Zimmermann gehört zu den jüngeren israelischen Historikern, die den Zionismus hinterfragen. Im Zusammenhang mit dem Begriff Symbiose spricht er von Assimilation: Assimilation habe das Judentum über Jahrhunderte gerettet.

Für ihn bedeutet dies, dass man bereit ist, mehr als eine Heimat als Heimat zu betrachten. Er empfindet den Begriff Assimilation nicht als negativ. Für Zimmermann bedeutet Assimilation keine Selbstaufgabe, sondern eine bewusste Entscheidung, die Entscheidung eines Individuums.
Kritik: Historische Heimat Israel
Auf Zimmermanns Thesen reagiert Wolf Moskovich bei einer Podiumsdiskussion unter dem Motto "Von der Diaspora in die Heimat". Moskovich stammt aus der Ukraine, er lehrt Slawistik an der hebräischen Universität Jerusalem:

"Für russische Juden gab und gibt es die Frage nach einer oder multipler Heimat nicht. Für uns war der Grund auszuwandern, dass wir in unsere historische Heimat zurückkehren wollten", erklärt der Wissenschaftler.
"Es stimmt, als wir nach Israel kamen, hatten wir noch Verbindung zu unserem ehemaligen Land und seiner Kultur, aber wir bezeichnen Russland als prähistorische Heimat. Für uns, die wir uns mit dem jüdischen Glauben und den Problemen des Judentums identifizieren, für uns ist Israel die Heimat", so Moskovich.

Er habe Israel als Heimat gewählt, weil er verstanden habe, dass es diesen einen jüdischen Staat gibt. Es wäre nicht weise gewesen, nicht am Aufbau dieser jüdischen Heimat teilzunehmen, sagt Moskovich.
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Stichwort: Theodor Herzl
Theodor Herzl, dem das Symposium in Wien gewidmet ist, war Anfang des 20. Jahrhunderts in Wien als Journalist tätig. Er gilt als geistiger Vater des Judenstaates. Die Juden seien eine Nation, ein eigener jüdischer Staat müsse gegründet werden, so Herzl.
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Einzige Heimat Israel?
Moshe Zimmermann allerdings stellt Israel als einzige Heimat des Judentums in Frage. Das Judentum habe sich in den vergangenen 2000 Jahren außerhalb Israels entwickelt.

Jerusalem sei außerdem nicht nur für Juden eine Heimat, Jerusalem sei auch Heimat für Moslems und Christen, sagt Moshe Zimmermann. Als Symbol spiele Israel dennoch eine große Rolle.

Ein Beitrag von Barbara Daser für die Sendung "Dimensionen" am 11. April 2002 um 19.05 Uhr auf Radio Österreich 1.
->   Radio Österreich 1
->   Weitere Informationen zum Herzl-Symposium
 
 
 
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01.01.2010