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Auf der Suche nach "Nicht-Krankheiten"  
  Das "British Medical Journal" forderte kürzlich seine Herausgeber und Leser auf, die wichtigsten "Nicht-Krankheiten" für eine Liste zu nennen. Als die am häufigsten angeführten Krankheiten, die - nach Ansicht der Ärzte - keine sind, erwiesen sich Altern, gefolgt von Arbeitsplatzproblemen, Langeweile und Tränensäcken.  
Richard Smith, Herausgeber des British Medical Journal (BMJ), will mit der veröffentlichten Liste vermeintlicher Krankheiten die "Diskussion darüber anregen, was eine Krankheit ist und was nicht, sowie die Aufmerksamkeit auf die zunehmende Tendenz lenken, dass menschliche Probleme als Krankheiten klassifiziert werden."
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"In search of 'non-disease'"
Der Artikel "In search of 'non-disease'", erschienen im BMJ, Bd. 342: Seiten 883-885 (2002), ist online kostenfrei abrufbar.
->   Zum Original-Artikel
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Defintion von "Nicht-Krankheit"
Für Richard Smith definiert sich eine "Nicht-Krankheit" als "ein menschlicher Vorgang oder ein Problem, das von manchen als Erkrankung beurteilt wird, obwohl es für die Betroffenen von Vorteil sein könnte, wenn dies nicht der Fall wäre."

Aufgrund dieser Definition wurden sämtliche Herausgeber sowie die Leser des BMJ gebeten, Beispiele für "Nicht-Krankheiten" zu nennen. Daraus entstand eine Liste, die 200 psychische oder körperliche Probleme enthält, die fälschlicherweise als pathologische Zustände angesehen werden.
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Die Top-Ten der "Nicht-Krankheiten"
1. Altern
2. Arbeitsplatzprobleme
3. Langeweile
4. Tränensäcke
5. Unwissen
6. Kahlköpfigkeit
7. Sommersprossen
8. Große Ohren
9. Graue oder weiße Haare
10. Hässlichkeit
->   Zur kompletten Liste
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Uneinheitliche Reaktionen
Wie schwierig die Grenzziehung zwischen "krank" und "normal" zu ziehen ist, zeigt die Unterschiedlichkeit der Reaktionen. Mehr als ein Viertel der befragten Mediziner konnte sich darüber einigen, dass etwa Tränensäcke, große Ohren oder Sommersprossen zu Unrecht als Krankheiten klassifiziert würden.

Immerhin zwei Prozent der Befragten rechneten aber auch Osteoporose, Diabetes, Fieber und Depressionen zu den Pseudo-Krankheiten.
Intention der Untersuchung
Das hinter dieser Umfrage stehende Motiv sei, wie Smith betont, "nicht der Verdacht, dass die Leiden durch 'Nicht-Krankheiten' eingebildet wären." Ganz im Gegenteil, letztere könnten, so der Autor, "die Leiden der allgemein akzeptierten Krankheiten weit übersteigen."

Ziel sei es vielmehr, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass die Krankheitsdefinition eine vage Angelegenheit sei ("Disease is a very slippery concept").

Darüber hinaus sei die fälschliche Etikettierung eines Leidens als "Krankheit" für den Betroffenen nicht immer von Vorteil, da sie zu Stigmatisierungen und dem Verlust des Selbstwertgefühls führen könne.
Definitionen von "gesund" und "krank"
Daraus ergibt sich die Frage, welche Wege bisher zur Lösung des Definitionsproblems eingeschlagen wurden. Die WHO definiert Gesundheit unter Einbeziehung körperlicher, psychischer und sozialer Bedingungen und betont, "dass Gesundheit nicht allein durch die Abwesenheit von Krankheit oder Schwäche" bestimmt werden könne.
->   Zur Gesundheitsdefinition durch die WHO
Der statistische Ansatz
In der klinischen Praxis beschreitet man oft einen völlig anderen, d.h. statistischen Definitionsweg. Als "krank" gilt hier jeder Zustand, der außerhalb eines gewissen Entfernungsbereiches vom Mittelwert liegt.

Dieses Maß kann jeden quantifizierbaren Zustand erfassen, also etwa Körpergröße, -gewicht oder Hämoglobingehalt. Nach dieser Definition liegen üblicherweise ca. fünf Prozent der Bevölkerung außerhalb des "Norm"-Bereiches.
Übereinkuft erzielen
Wie eng oder weit eine Krankheitsdefinition auch gefasst sein möge, sie zielt immer darauf ab, Übereinstimmung zu erzielen. Mit anderen Worten, die Definition ist nur dann sinnvoll, wenn sie von Patienten oder Ärzten auch allgemein akzeptiert und angewandt wird.

Dies führt zu der prinzipiellen Frage, ob "Krankheit" überhaupt eine natürliche Kategorie oder nicht vielmehr eine "Erfindung" unseres sozialen Umfeldes ist.
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Krankheit als Konstruktion?
Der englische Mediziner Thomas Sydenham (1624 - 1689) war der Meinung, dass Krankheiten wie Tier- oder Pflanzenarten klassifiziert werden könnten. Er fasste sie daher als natürliche Kategorien auf, die unabhängig von ihrer Beobachtung existierten und demzufolge nur entdeckt werden müssten.

Mehr zu Thomas Sydenham

Eine Gegenposition vertrat der französische Philosoph Michel Foucault (1926 - 1984), der in seinem Buch "Die Geburt der Klinik" argumentierte, dass medizinische Kliniken kein Instrument zur Entdeckung einer noch unbekannten Wahrheit seien, sondern vielmehr der systematischen Verbreitung unserer vorgefassten Urteile über Krankheitszustände dienten.

Mehr zu Michel Foucault
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Kritik am "arroganten" Konzept
Die BMJ-Umfrage stieß indes nicht nur auf Zustimmung. In einem der kompletten Online-Liste angeschlossenen Diskussionsforum attestierten Leser dem Konzept "Arroganz" und die Tendenz, "das Kind mit dem Bade auszuschütten".

In diesem Zusammenhang übt Richard Smith durchaus Selbstkritik. Er bezeichnet die Möglichkeit, dass beinahe jeder Zustand in die Liste der "Nicht-Krankheiten" aufgenommen werden konnte, als "bewusst geplant" - aber "vielleicht auch unklug".

Robert Czepel, science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010