News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Das Übersinnliche in der Stadt der Moderne  
  In der Moderne treffen Widersprüche aufeinander: Technisierung und Fortschritt gegenüber Okkultismus und Spiritismus. Wie aber entsteht Okkultismus in einem Zeitalter der Rationalität? Danach fragte ein Workshop am Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien.  
Die Entstehung des modernen Okkultismus wird mit der Mitte des 19. Jahrhunderts angegeben. Der Historiker Thomas Laqueur von der University of California in Berkeley setzt allerdings früher an.
Es spukt in der Cock-Lane
"Wir könnten im Jänner 1762 beginnen, als sich der Geist einer jungen, ermordeten Frau durch Klopfen auf einen Tisch bemerkbar machte. Das Haus war in einem Arbeiterviertel in London. Der Geist wurde der Cock-Lane-Geist genannt. Monatelang antwortete sie auf Fragen mit einmal Klopfen für ja und zweimal Klopfen für nein", erzählt Laqueur.
->   Mehr zum Cock-Lane-Ghost
...
Okkultismus und Spiritismus
Okkultisten untersuchen Kräfte in Mensch und Natur, die mit den fünf Sinnen nicht wahrnehmbar sind. Solche Phänomene versuchen sie wissenschaftlich zu erklären. Spiritisten hingegen beschreiben okkulte Lehren mithilfe von Geistern. In Séancen zum Beispiel teilen sich Tote über ein Medium den Lebenden mit.
...
Okkultismus in Deutschland
Das Tischrücken kam 1853 von den USA über England nach Deutschland, sagt der Historiker Sawicki. Eine Modewelle, die bald abflaute. Für viele steckte zu Beginn kein Spiritismus dahinter, sondern Neugier. Die Phänomene wurden mit einer unbekannten Naturkraft erklärt.

Erst 1880 bekam der Spiritismus in Deutschland Breitenwirkung, so Sawicki. Es wurden spiritistische Vereine und Zeitschriften gegründet. Orte des Okkulten waren vor allem in Städten zu finden, z.B. in den Hinterräumen von Gasthäusern.
Private Kreise in England
In England entwickelten sich Spiritismus und Okkultismus kontinuierlich, ohne "Pause" zwischen 1855 und 1880, sagt der Sozialhistoriker Logie Barrow von Universität Bremen. In seiner Forschungen hat er auch keine Hinterräume von Gasthäusern als Orte des Okkulten gefunden, sondern private Kreise.
Als Reaktion auf die Aufklärung ...
Der englische Sozialhistoriker Barrow betrachtet den Spiritismus in England vor dem Hintergrund der Reformation. Die Verehrung der Jungfrau Maria und der Heiligen war im 16. Jahrhundert abgeschafft worden, das habe eine emotionale Lücke hinterlassen, auch für die folgenden Generationen.

In der Aufklärung wichen dann religiöse Zukunftshoffnungen einem innerweltlichen Utopismus, das Bedürfnis nach Übersinnlichem blieb. Okkultismus sei die Reaktion darauf, sagt Barrow.
... oder auf moderne Friedhöfe
Thomas Laqueur beginnt seine Suche nach der Entstehung des Okkultismus bei der Geschichte von Friedhöfen. Friedhöfe stellen zwischen Lebenden und Toten eine Verbindung her, genau wie der Spiritismus. Doch, so Laqueur, moderne Friedhöfe seien für Geister wenig empfänglich.

Durch die Ästhetik der Friedhöfe verschwand das Übersinnliche, sagt Laqueur: Hier verstummten die Körper der Toten - kein Kratzen, kein Heulen, kein Wispern. In modernen Friedhöfen traten die Geister nicht mehr derart mit der Welt der Lebenden in Verbindung.

Die Toten hatten in der modernen Stadt keinen Platz mehr, das Übersinnliche hatte keinen Platz mehr in den Friedhöfen. Die Antwort auf die saubere, kühle Moderne scheinen Okkultismus und Spiritismus gewesen zu sein.
...
Geschichte der Friedhöfe
In der christlichen Tradition wurden die Toten in der Nähe der Kirche oder in der Kirche selbst bestattet. In den wachsenden Städten war bald kein Platz mehr, Hygienesorgen kamen auf.

In Wien ordnete Joseph der zweite 1784 an, die Friedhöfe innerhalb des heutigen Gürtels aufzulassen. Zur selben Zeit wurden europaweit Friedhöfe vor den Stadttoren angelegt.

Ab dem 18. Jahrhundert wurden Friedhöfe gärtnerisch und parkähnlich gestaltet. Im 19. Jahrhundert wurden Familiengrüfte, Grabmonumente und Skulpturen hinzugefügt, zum Beispiel am Friedhof Père Lachaise in Paris.
->   Père Lachaise
...
Kulturwissenschaftler erforschen Okkultismus
Die Wissenschaftler am IFK, dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien, arbeiten den Okkultismus in westeuropäischen Großstädten auf.

Ihnen geht es zum einen um die handelnden Personen: Wer sind die Medien, die das Übersinnliche übersetzen, welche Gruppen interessieren sich dafür, gibt es Netzwerke, die länderübergreifend agieren? Zum anderen geht es den Kulturwissenschaftlern um die Orte, an denen Okkultismus Platz fand und okkultistische Praktiken stattfanden.
Ein Medium und sein Professor
Friedrich Zöllner etwa war der Begründer der Astrophysik in Deutschland, Henry Slade war ein amerikanisches Medium. In London wurde Slade 1876 der Prozess wegen Hexerei gemacht, er floh nach Deutschland und traf dort Zöllner.

Deren gemeinsame Experimente brachten dem Spiritismus in Deutschland Popularität, erzählt der Literaturwissenschaftler Albert Kümmel, Mitarbeiter am Forschungskolleg "Medien und Kulturelle Kommunikation" in Köln.

Denn während Medien in Deutschland bis dahin nur Tischrücken und Geisterschrift beherrschten, bot Slade wesentlich mehr: Messer flogen, ein Bettschirm zerriss, eine Geisterhand kitzelte Séanceteilnehmer am Knie.
Geisterhände und die vierte Dimension
Friedrich Zöllner suchte nach der vierten Dimension, sagt Kümmel. Geister oder Okkultes interessierten ihn zu Beginn nicht, sondern er hoffte, mit dem Medium Slade die vierte Dimension wissenschaftlich beweisen zu können, so Kümmel.

Zöllner war Wissenschafter, er wollte an seine Experimente glauben, erläutert der Experte - und er wollte daran glauben, dass Slade kein Betrüger war.
Medien und Geschlechterdebatte
Einige Medien werden als Hermaphroditen beschrieben, andere wechselten in der Trance das Geschlecht. Meistens waren die Medien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber Frauen.

Das sei bemerkenswert, sagt der Sozialhistoriker Logie Barrow, in einem Jahrhundert, in dem Frauen keine öffentliche Rolle spielen - geschweige denn provokant auftreten durften.

Die Filmwissenschafterin Andrea Braidt vom IFK fragt weniger nach dem biologischen Geschlecht des Mediums, denn nach der Konstruktion von Geschlecht - nach einem Geschlechter-Konzept, das die Rolle des Mediums beschreibt.
Zweideutige Rolle
Die Rolle der Medien sei zweideutig, sagt Barrow, sowohl passiv als auch aktiv. Ein rezeptives, ein empfängliches Medium beschreibt er als penetrierbar, als durchdringbar.

Gleichzeitig zu dieser passiven Rollendefinition ist das Medium aktiv, sagt die Filmwissenschafterin Andrea Braidt: es hat eine Stimme - auf die es in der Séance ankommt - und es bekommt Aufmerksamkeit.
Okkulte Hilfe für irdische Probleme
Das Medium bzw. die spiritistischen Praktiken übernahmen auch eine soziale Funktion, erklärt der deutsche Historiker Diethard Sawicki. Das Medium oder der Geist war der scheinbar unbeteiligte Dritte in sozialen Konflikten, zum Beispiel in Geld- oder Erbschaftsangelegenheiten.

Die Geister, die in einer Séance erschienen oder durch ein Medium sprachen, artikulierten Wünsche oder Forderungen, die sich auf Probleme der Lebenden bezogen oder auf die Beziehung zwischen den Lebenden und dem Verstorbenen.

Ein Beitrag von Barbara Daser für die Sendung "Dimensionen" am 22. April 2002 um 19.05 Uhr auf Radio Österreich 1.
->   Radio Österreich 1
->   Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften IFK
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010