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Von der Zwangssterilisierung zur Ermordung  
  Mit den Forschungsergebnissen über die Euthanasie von behinderten Erwachsenen und die Tötung von Kindern am Wiener Spiegelgrund beschäftigt sich der neu erschienene zweite Band zur Geschichte der nationalsozialistischen Euthanasie in Wien.  
Angst und Grauen am Spiegelgrund
Wenn ich an den Steinhof denke, überfällt mich entsetzliche Angst - schreibt Alois Kaufmann, der als 7-jähriger Bub im Jahr 1943 in das sogenannte heilpädagogische Institut am Spiegelgrund gekommen ist.

Es war kein Heilinstitut, sondern eine KZ-ähnliche Anstalt. 772 Kinder starben dort auf grausame Weise. Sie wurden mit dem Schlafmittel Luminal langsam getötet, ausgehungert und für medizinische Experimente missbraucht.
->   Spiegelgrund-Opfer werden bestattet
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Systematische Tötung
Im Jahr 1940 begann die Tötung von Kindern in der seinerzeitigen Wiener städtischen Nervenklinik für Kinder am Spiegelgrund.
Im Schloss Hartheim bei Linz begann die sogenannte T4-Aktion. Die Ermordung von Erwachsenen, die als nicht lebensfähig eingestuft wurden. Die Opfer wurden ausgezogen, registriert, in Gaskammern gesperrt und mit Kohlenmonoxyd getötet. Innerhalb von 2 Jahren wurden fast 20.000 Menschen getötet.
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Auch ohne Behinderung drohte Einweisung
Viele der Kinder waren nicht behindert. Als Begründung für die Einweisung reichten schon desolate Wohnverhältnisse in der Familie und geistige Behinderungen in der Verwandtschaft.

Ab dem Jahr 1943 wurden Tausende Kinder aus dem deutschen Reichsgebiet nach Wien transportiert.
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"Meine liebe Tante Malwine"
Ein Kind aus einer Gruppe von 300 Hamburger Frauen und Mädchen, Frieda Fiebinger, schrieb im November 1943 heimlich einen Brief an ihre Tante Malvine:

"Als wir abends in Wien angekommen sind, sind wir denselben Abend verteilt worden. Wir sind nach Haus 21 gekommen. Da liegen wir noch heute. Wir sind sehr unfreundlich empfangen worden. Wir sind auf Erde gelegt worden. Die Erde war sehr unrein. Die Schwestern haben unser Zeug von unserem Leib gerissen und am anderen Morgen sind unsere Haare auch abgekommen. Wir haben sehr geweint. Die Schwestern haben die erste Zeit so sehr auf uns Hamburger geschimpft. Wie sollen wieder hin, wo wir hergekommen sind usw. Dass die Hamburger uns so was schicken, dass wir alle noch leben. Die Kinder müssen den ganzen Tag arbeiten bis abends um 20 Uhr und die Mahlzeit ist hier morgens um 8 Uhr. Wir bekommen nur eine Schnitte trockenes Brot, und mittags bekommen wir wenig zu essen, und nachmittags bekommen wir auch so wie morgens. Und abends bekommen wir etwas Warmes, aber ganz wenig. Wir möchten uns wieder mal satt essen. Wir nehmen jetzt sehr ab. Nun ist hier so eine große Aufregung, dass wir jetzt alle krank werden...."
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Zwangs-Sterilisierung von Behinderten
Begonnen hat die Registrierung von behinderten Menschen Anfang der 30-er Jahre. Mehr als 300.000 Menschen wurden danach in Deutschland zwangssterilisiert.

Durch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wurden die Sterilisierungen im Jahr 1933 legitimiert.
Menschen nach ihrer Nützlichkeit beurteilen
1934 rechnete der Reichsärzteführer Gustav Wagner auf dem Nürnberger Parteitag vor, das die wirtschaftliche Belastung durch erbkranke 1,2 Milliarden Mark ausmache. Danach wurden Menschen nach ihrer Nützlichkeit für die Volkswirtschaft beurteilt und ausgesondert.

Die Menschen wurden später in der Euthanasie-Aktion getötet. Psychiater entschieden über Leben und Tod von Anstaltspatienten, ohne die Kranken je selbst gesehen zu haben
Minderwertiges Leben
"Die NS-Medizin-Verbrechen haben ihre Wurzeln im rassenhygienischen Gedankengut, das sich schon in den 20-er und 30-er Jahren in Deutschland und Österreich ausbreitete", sagt Wolfgang Neugebauer vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, einer der Herausgeber des Buches

"Das bedeutete, dass man die sogenannten minderwertigen Menschen, dazu gehörten die geistig und körperlich Behinderten, entweder von der Fortpflanzung ausschalten wollte oder später überhaupt ermordete", so Neugebauer weiter.
Erste Schritte schon im Jahre 1933
Die erste Maßnahme, die die Nazis laut Neugebauer auf diesem Gebiet setzten fanden schon im Jahr 1933 statt: das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses aufgrund dessen dann in Deutschland über 300.000 Zwangssterilisierungen an sogenannten behinderten Menschen durchgeführt worden sind.

"Auch in Österreich hat das dann im Jahr 1940 begonnen. Hier sind etwa 5.000-10.000 Behinderte betroffen gewesen", erklärt Neugebauer.
Politiker und Ärzte verantwortlich
"Das rassenhygienische Gedankengut wurde dominierend. Sowohl in der Wissenschaft, insbesondere in der Medizin in der Psychiatrie, aber auch in der Politik", meint Neugebauer.

"Es waren nicht nur Nazis, auch manche linke Politiker wie etwa Julius Tandler in Wien sind von diesem Gedankengut beeindruckt worden. Man muss sagen, das hat sich voll und ganz durchgesetzt. Das war der damalige Stand der Wissenschaft und das hat dann leider in der Zeit der Nationalsozialismus während des Krieges zu fürchterlichen Verbrechen geführt."

Edith Bachkönig,Ö1-Wissenschaft
 
 
 
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01.01.2010