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Trauma nach Massaker: Schock und Ängste als Folge  
  Die Bilder vom Massaker an einem Erfurter Gymnasium werden nach Expertenansicht die betroffenen Schüler wahrscheinlich monatelang in ihrem Unterbewusstsein quälen. Schock, Stresssymptome, aber auch körperlichen Aggressionen sind die Folgen eines solchen Traumas, das sich zu einer schweren, chronischen Traumatisierung entwickeln kann.  
"Es dauert mindestens ein halbes Jahr, ehe ein solches Trauma körperlich und seelisch verarbeitet ist", sagte die Traumatherapeutin Gabriele Kluwe-Schleberger aus dem südthüringischen Rohr in einem dpa-Gespräch.

In Extremfällen könne das Erlebte zu einer so genannten posttraumatischen Belastungsstörung mit Dauerfolgen wie Ängsten, Depressionen oder psychosomatischen Folgen führen.
"Todesängste durchgemacht"
"Die Kinder haben Todesangst durchgemacht", sagte Kluwe-Schleberger. Zugleich hätten sie massive Gewalt gegen Menschen erlebt, die für sie sonst als "Beschützer" gelten.

Bei dem Amoklauf hatte ein 19-jähriger ehemaliger Schüler des Erfurter Gutenberg-Gymnasiums 16 Menschen erschossen, darunter 13 Lehrer. "Das Erlebnis, nicht beschützt worden zu sein, wirkt auf Kinder verheerend", so die Psychologin.
->   Mehr zu den Geschehnissen in Erfurt in ORF.at
Zittern, Weinen, Albträume und "Flash-backs"
Unmittelbar nach einem solchen traumatisierenden Erlebnis stünden die Beteiligten unter Schock. Erst wenn der abklinge, komme es zu Zittern, Weinen, Schreien, Albträumen, aber auch körperlichen Aggressionen, beschreibt Kluwe-Schleberger die Folgen für die Betroffenen.

"Typisch ist der so genannte Flash-back, bei dem die erlebten Bilder im Kopf wie in einem Film immer wieder ablaufen", sagte die Therapeutin. Wichtig sei, dass diese Not vom Umfeld der Kinder ernst genommen und nicht kleingeredet werde. Das gelte vor allem für die Eltern.
Stresssymptome als Anzeichen einer Traumatisierung
"Die Eltern sollten den Kindern in erster Linie zuhören, damit sie sich das Erlebte von der Seele reden und den extremen Stress auch tatsächlich abreagieren können", empfahl die Psychologin.

Sollten Stresssymptome wie etwa stark erhöhter Puls nach einigen Tagen noch nicht abgeklungen sein, könne das bereits ein Anzeichen für chronische Traumatisierung sein.

Anfällig dafür seien vor allem Kinder, die bereits in der Vergangenheit Traumata wie Todesfälle oder Unfälle erlebt hätten. Dann sei unter Umständen professionelle Hilfe durch Spezialisten angezeigt.
Entwicklung von Schuldgefühlen
Wie der Trauma-Psychologe Christian Lüdke gegenüber der dpa erklärte, bestehe die größte Gefahr bei der emotionalen Verarbeitung darin, "dass die Kinder Schuldgefühle entwickeln. Sie glauben dann, sie seien mitverantwortlich an dem Amoklauf", so Lüdke.
"Echter Amoklauf" in Erfurt
Auch der Täter und die Frage nach den Ursachen seiner Tat beschäftigen die Experten. Der Wiener Psychiater Max Friedrich sprach im Ö1-Journal von einem "echten Amoklauf", der "blindwütig" verübt worden sei.

Man dürfe nicht sofort der Erfurter Schule die Schuld geben, es müsse erst geklärt werden, welche Konflikte im Einzelfall hinter der Tat stehen. Er vermute eine dahinter liegende Krankheit, so Friedrich.
Begünstigt Schulsystem Entwicklung von Hass?
Nach Ansicht des Bielefelder Konfliktforschers Rainer Dollase wird die Entwicklung von Schülerhass gegen Lehrer vom deutschen Schulsystem und der Lehrerausbildung teilweise begünstigt.

"Natürlich sind solche Extreme Einzelfälle", sagte der Psychologe zu den Todesschüssen am Freitag in Erfurt. "Aber sie gedeihen auf einem Humus, für den einige Fehlentwicklungen typisch sind", sagte der seit 1970 mit Lehrerfortbildung befasste Autor mehrerer Studien zu Gewalt an Schulen im dpa-Gespräch.
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Psychologe: Computerspiele bereiten Gewalttäter vor
Zwischen gewaltverherrlichenden Computerspielen und Gewalttaten von Jugendlichen gibt es nach Ansicht des Hannoveraner Schulpsychologen Berd Jötten einen klar nachweisbaren Zusammenhang. Durch solche Spiele würden die Täter auf ihre Taten systematisch vorbereitet, sagte Jötten am Samstag.
->   Mehr dazu in futurezone.ORF.at
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Kein "Training" für Konfliktfälle
"Lehrer werden viel zu wenig auf ihre erzieherische Aufgabe hin ausgebildet, sie lernen in keiner Phase der Ausbildung, wie man mit einem Konfliktfall umgeht", sagte Dollhase.

Es sei wichtig, auch die im Schatten stehenden, sich nicht beteiligendenSchüler nicht zu übersehen. An deutschen Schulen herrsche oft eine "unselige Alternative" zwischen Weichheit oder Strenge der Lehrer.
Benotungssystem und "maßloser Abitur-Ehrgeiz"
Schädlich für das Lehrer-Schüler-Verhältnis sei auch das deutsche Benotungssystem - vor allem im Hinblick auf die mündliche Leistung. Vielfach fehlten klare Kriterien, sodass Schüler für eine schlechte Benotung leicht die persönliche Abneigung von Lehrern verantwortlich machen könnten.

Hinzu komme "maßloser Abitur-Ehrgeiz" der gesamten Gesellschaft, die andere Schulabschlüsse kaum noch würdige und nur mit geringen Berufschancen ausstatte. "Dieser falsche Ehrgeiz schürt schnell die Angst: Wenn ich das nicht schaffe, gehöre ich nicht mehr dazu."

Wenn dann das Scheitern des Schülers von ihm selbst eindeutig als Schuld der Lehrer gewertet werde, könne es in Einzelfällen zu extremen Rachefeldzügen kommen, so Dollhase.
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"Kränkung" als Ursache?
Auslöser für einen Amoklauf sind nach Erkenntnis der Psychologie meist Kränkungen. "Dabei zieht es Amokläufer bei ihrer Tat in der Regel an den Ort, der etwas damit zu tun hat", sagte Psychologe Steffen Dauer aus Halle nach der Tat. Nach Angaben einer Schülerin war der Täter von der Abiturprüfung ausgeschlossen worden.
->   science.ORF.at: 78 Prozent der Schüler von Lehrern gekränkt
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Gewaltbereitschaft durch fehlende Kommunikation
Beim runden Tisch der ZiB2 am Freitag wurde von Experten, etwa dem Kriminalpsychologen Müller, das Abbrechen der Kommunikation für die Gewaltbereitschaft verantwortlich gemacht. Die Prävention sei enorm wichtig, etwa durch Schulpsychologen.
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Posttraumatisches Belastungssyndrom: Trauma mit weit reichenden Folgen
 
 
 
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01.01.2010