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Reformpädagogik: Mythos Montessori  
  "Vom Greifen zum Begreifen" ist ein Prinzip der vor rund 95 Jahren begründeten Pädagogik von Maria Montessori, deren Todestag sich am 6. Mai zum 50. Mal jährt. Mit ihrer These, das Kind und seine spielerischen Bedürfnisse in den Mittelpunkt des Lernens zu stellen, revolutionierte die erste weibliche Ärztin Italiens nachhaltig die Sichtweise der Pädagogik. Die Popularität ihrer Methoden ist bis heute ebenso ungebrochen - wie auch umstritten.  
Während Montessoris Methoden in der pädagogischen Praxis nach wie vor Hochkonjunktur haben, werden sie aus erziehungswissenschaftlichem Blickwinkel immer wieder kritisiert und mit Skepsis betrachtet.
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Leben und Werk Maria Montessoris
Maria Montessori wurde am 31. August 1870 in Ancona (Italien) in ein bürgerliches Elternhaus geboren. Mit Ausdauer und Hartnäckigkeit erkämpfte sie sich eine medizinische Ausbildung und wurde - trotz zahlreicher Anfeindungen - 1896 als erste italienische Ärztin gefeiert. Montessori spezialisierte sich auf die Arbeit mit Kindern, und aus der Konfrontation mit geistig behinderten Buben und Mädchen erwuchs der Wunsch, im pädagogischen Bereich zu arbeiten.

Auf Grund der Erfolge, die sich in ihrer Methode bei der Entwicklung der Wahrnehmung und Geschicklichkeit geistig behinderter Kinder einstellte, begann sie, dieses Modell auch auf "gesunde" Kinder mit Lernschwächen umzusetzen.
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Breite reformpädagogische Bewegung entsteht
Montessoris Pädagogik steht in einem engen Zusammenhang mit den breiten reformpädagogischen Bewegungen, die um 1900 in einigen europäischen Ländern und in Nordamerika entstanden.

Die so genannte Reformpädagogik enthielt neoromantische, progressiv künstlerische und politische Elemente. Sie verstand sich im Gegensatz zu traditionellen Maßstäben der Erwachsenenwelt und betonte die Bedürfnisse und Fähigkeiten des Kindes.
"Ins politische System gepasst"
So habe die Reformpädagogik wunderbar ins politische System dieser Zeit gepasst, leitete sie doch mit ihrer Huldigung irrationaler Pseudoprinzipien einen Bruch mit der Aufklärung ein, kommentiert der Erziehungswissenschaftler Alfred Schirlbauer die Verbreitung reformpädagogischer Ansätze zu Beginn des letzten Jahrhunderts gegenüber science.ORF.at.
Übergeordnete Erziehung, keine Bildungsziele
An Stelle der Erziehung trete die Entwicklung; die Ratio, der Intellekt werde dergestalt durch die "Kraft" im Inneren, die sich zu entwickeln hat, ersetzt. Es sei zwar die Rede von einer übergeordneten Erziehung, Bildungsziele kämen darin aber nicht vor, kritisiert Schirlbauer.

Unklar sei auch, wie die stilisierte innere Kraft sich entwickeln solle, ebenso wie die Disziplin, die bei Montessori eine wichtige Rolle spiele und in Form der Selbstdisziplin die Intentionalität der Erziehung ersetze.
Populistischer Sprachduktus?
"Aufgrund ihres Sprachduktus - und das ist das große, übergreifende Merkmal der Reformpädagogik -, der von Schlichtheit, Metaphorik und Anschaulichkeit geprägt war, weisen die reformpädagogischen Ansätze einen populären Grundzug auf, der bis heute fasziniert, da er von jedermann verstehbar ist und darüber hinaus esoterische Bedürfnisse zu befriedigen vermag", so der Wissenschaftler.

Die Kritikpunkte gelten allerdings weniger Maria Montessori, die ihre Methoden vor allem für Kinder des Vorschulalters entwickelt hatte, als vielmehr ihren jetzigen "Epigonen", die das Konzept für das gesamte Jugendalter mitveranschlagen.
Kindgerechte Förderung
Vom Tätigkeitsdrang und Selbstbildungstrieb von Kindern fasziniert, sah Maria Montessori in der "Freiarbeit" und der Ansprache aller Sinne die Schlüsselelemente einer gezielten Förderung der kindlichen Lernfähigkeit und Kreativität.

Folglich sollen nicht rigide Lehrpläne die Entwicklung der Kinder bestimmen, sondern sie selbst. Mit Hilfe von kindgerechten Unterrichtsmaterialien und Räumen, war Montessori überzeugt, kann eine entspannte Atmosphäre entstehen, in der Eigenverantwortung und Selbstständigkeit der Kinder unterstützt werden.
"Hilf mir, es selbst zu tun!"
Demnach sollen Kinder selbst wählen können, womit sie sich beschäftigen wollen. Die dabei angewandte Pädagogik untersteht dem Grundsatz "Hilf mir, es selbst zu tun", der im reformpädagogischen Ethos weg von der Bevormundung hin zu einer "Begleitung" der Lernenden seinen Ausdruck fand.
->   Bildungsserver Reformpädagogik
Das Kind, ein unverwechselbares Individuum
Da für Montessori jedes Kind ein unverwechselbares Individuum darstellt, muss es entsprechend eigener Fähigkeiten gefördert werden. Die kindgerechten Unterrichtsmaterialien, das so genannte "konkrete Material" spielt dabei eine zentrale Rolle:

Dies brauchen Kinder, um mit ihren Händen genau die Handlungen zu vollziehen, die ihnen das Verständnis abstrakter Vorgänge ermöglichen. Seit den Anfängen gab es eine kontinuierliche Weiterentwicklung dieser Lern- und Übungsmaterialen.
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"Konkretes Material"
Das Material muss unter anderem der individuellen kindlichen Entwicklungsstufe Rechnung tragen, die Aufmerksamkeit, der Kinder fesseln, ein hierarchisches Ordnungsprinzip enthalten.

Es muss vor allem aber begrenzt sein, denn zum einen beeinträchtigt übermäßiges Angebot die Aufmerksamkeit, zum anderen sollen Kinder schon früh lernen, dass sie ein Material nicht haben können, das schon ein anderes Kind hat.
->   Mehr zu "Konkretes Material"
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Montessori-Bewegung
In den zwanziger und dreißiger Jahren fand Montessoris Theorie von der Selbstbestimmung und Anleitung der Kinder beim Lernen zahlreiche Anhänger in ganz Europa.

Neben italienischen waren es vor allem englische und schweizerische Schulen, die ihre Lehrpläne nach der revolutionären "Montessori-Pädagogik" ausrichteten. Andere europäische und außereuropäische Staaten zogen nach. Große Resonanz fanden Montessoris Lehrmethoden auch in den USA.
Ende unter der Herrschaft der Nationalsozialisten
Mit der Herrschaft der Nationalsozialisten verschwand diese Form des "freien" Unterrichts von den Lehrplänen, die Montessori-Einrichtungen wurden geschlossen. Erst im Zuge der zahlreichen Reformbewegungen der späten 70er Jahre kam es zu einer beachtlichen Renaissance der Montessori-Pädagogik und ihrer Leitsätze.
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Montessori-Pädagogik in Österreich
Die Pioniere der Montessori-Bewegung in Österreich waren Ordensschwestern der Franziskanerinnen, die 1917 in einem ihrer Kindergärten in Wien eine Gruppe nach den Prinzipien der Montessori-Pädagogik führten. Die erste "Montessori-Schule" wurde hingegen von der Sozialistin Lili Roubiczek in Wien gegründet. In den dreißiger Jahren entstanden dann Montessori-Einrichtungen in Eisenstadt, Wiener Neustadt und Innsbruck. 1938 wurden diese von den Nationalsozialisten geschlossen. Heute gibt es in Österreich 17 "echte" Montessori-Schulen mit insgesamt etwa 500 Schülern. Diese sind großteils im Rahmen der Österreichischen Gesellschaft für Montessori-Pädagogik organisiert.

Eine umfassende Darstellung der Montessori-Pädagogik in Österreich wurde kürzlich von Herbert Haberl und Franz Hammerer: in der Fachzeitschrift "Erziehung und Unterricht" publiziert: "95 Jahre Montessori-Pädagogik in Österreich. Rückblick, aktueller Stand und Perspektiven." Der Artikel ist online kostenfrei zugänglich.
->   Der Artikel (pdf-file)
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Der Fall Montessori
Allerdings weist eine Studie, die sich auf die Korrespondenz von Maria Montessori mit Mussolini und seinen Unterrichtsministern zwischen 1920 und 1935 stützt, nach, wie Maria Montessorie die Verbreitung ihrer Methode selbst organisiert hat. Dabei wusste sie die politische Situation der Zeit durchaus für ihre Zwecke zu nutzen.

Des Weiteren lässt sich laut Studie nicht widerlegen, dass ihre Methoden in der faschistischen Nationalerziehung einsetzbar waren: Die Montessori-Pädagogik passte seit ihrer Entstehung stets zu allen - auch politischen - Umständen, ohne dass sie sich ändern musste.
Montessori kooperiert mit Mussolini
Es scheint demnach auch kein Zufall, dass die Montessori-Methode just nach einer Begegnung von Maria Montessori und Mussolini im Jahre 1924 in den italienischen Schulen eingeführt wurde.

So stand der "Duce" ihren Lehrmethoden wollwollend gegenüber und unterstüzte die Montessori-Kindergärten und -Schulen mit staatlichen Mitteln. Montessori selbst war Ehrenmitglied der Partei.
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Die Studie
Die Studie: "Der Fall Montessori. Die Geschichte einer reformpädagogischen Erziehungskonzeption im italienischen Faschismus" von Helene Leenders ist erschienen im Klinkhardt Verlag.
->   Mehr zur Studie
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Lehrerausbildung und Gründerin zahlreicher Kinderhäuser
Das erste Kinderhaus (Casa dei Bambini) San Lorenzo gründete Montessori 1907 in Rom, dem im Laufe der Jahre zahlreiche weitere in Europa folgen sollten. Den ersten Ausbildungskurs für Lehrer hielt Montessori 1909 ab.

Ab diesem Zeitpunkt begann die Pädagogin, sich ausschließlich der "Bewegung" zu widmen, quittierte den Dienst an der Universitätsklinik und ließ ihre Praxis auf. Ihren Unterhalt verdiente sie mit Vorträgen und Publikationen.

Agnieszka Dzierzbicka, science.ORF.at
->   Österreichische Gesellschaft für Montessori-Pädagogik
->   Montessori Centre International
 
 
 
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01.01.2010