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Plötzlicher Kindstod durch Botulinus-Gift?  
  In Österreich stirbt einer von 1.500 lebend geborenen Säuglingen innerhalb des ersten Lebensjahres am plötzlichen Kindstod. Über die Ursachen dieses Phänomens wird seit Jahren diskutiert. Göttinger Wissenschaftler haben nun Hinweise auf einen umstrittenen Faktor gefunden: das Botulinus-Gift.  
Die Göttinger Wissenschaftler sammelten Indizien für die Bedeutung des umstrittenen Risikofaktors. Bei der Obduktion von 113 Babys, die am plötzlichen Kindstod gestorben waren, wurde in fast jedem dritten Körper das Botulinus-Gift im Darm, Blut oder in der Leber nachgewiesen. Schon geringste Mengen dieses von Bakterien produzierten Stoffes können zum Erstickungstod durch Muskellähmung führen.
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Botulinus-Gift
Das an sich harmlose Bakterium Clostridium botulinum bildet unter Luftabschluss ein Nervengift, das so genannte Botulinus-Toxin. Bekannt ist es vor allem durch Fälle von Botulismus. Diese schwere Lebensmittelvergiftung wird durch unzureichend konservierte Nahrungsmittel ausgelöst, in denen sich unter Luftabschluss das Gift bildet. Dies blockiert die Signalübertragung zwischen Nerven und Muskeln - und führt unbehandelt zum Erstickungstod.
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Das Ergebnis der Untersuchung sei "sehr ungewöhnlich", so Klaus-Steffen Saternus, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Göttingen. "Vor 20 Jahren wurden nur in einem Prozent der Fälle von plötzlichem Kindstod Hinweise auf Botulismus entdeckt." Diese Zunahme könne nicht allein auf verbesserte Erkennungsmethoden zurückgeführt werden.
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Plötzlicher Kindstod
Unter dem Terminus (engl. Sudden Infant Death Syndrome - SIDS) versteht man den plötzlichen und unvorhersehbaren Tod eines Kindes unter einem Jahr: Während des Schlafes tritt Atemstillstand ein, auf den der Tod des Säuglings folgt. Dabei gibt es in der Regel keinerlei Vorwarnungen, da die Kinder aus völliger Gesundheit heraus versterben.
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Gift ist biologisch wirksam
Saternus überprüfte in einem Tierversuch auch, ob das aus den Baby-Organen entnommene Gift wirklich biologisch wirksam ist. In einem Versuch mit Mäusen wies er dessen Wirksamkeit nach und konnte die Nager in vielen Fällen mit einem Gegengift retten.
Blumenerde unter Verdacht
Als möglichen Übertragungsweg der Botulismus auslösenden Erreger haben Saternus und der Tiermediziner Helge Böhnel Komposte und Blumenerden im Verdacht. In zahlreichen Biomüll-Proben wurde das als gefährlich eingestufte Bakterium "Clostridium botulinum" nachgewiesen, das oft als feste Spore überdauert.

Es sei bisher nur eine Hypothese, dass die Keimfracht über die Luft aus der Umwelt zu den Kindern gelangt. "Aber wir fragen uns natürlich: Wie kommen die Sporen in die Säuglinge, wenn sie von ihren Müttern voll gestillt wurden und die Babynahrung in Ordnung ist", meint der Pathologe. Honig, der die Sporen auch enthalten könne, sei von den Eltern nicht gegeben worden.
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Botulinus-Gift im Honig
Der Botulismus im Kleinkindalter ist eine im Grunde bereits bekannte Sonderform der Botulismus-Erkrankung. Bei Säuglingen tritt sie auf, wenn sie Clostridiensporen aufnehmen. Das kann durch Honig geschehen. Wegen der besonderen Verhältnisse im Darm von Säuglingen bis zum alter von sechs Monaten können die Sporen dort auskeimen und das Toxin produzieren. Das klinische Bild reicht dann vom Trägerzustand ohne Symptome bis zur fatalen, dem plötzlichen Kindstod ähnlichen Erkrankung.
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Kontrovers diskutierte Studie
Die Studie wird allerdings in Fachkreisen kontrovers diskutiert. "Es gibt seit 1978 zu Botulismus und plötzlichem Kindstod immer wieder Untersuchungen, die zu völlig widersprüchlichen Ergebnissen geführt haben", sagt Thomas Bajanowski von der Rechtsmedizin der Universität Münster. Die Göttinger Resultate seien wissenschaftlich angreifbar, weil eine geeignete Kontrollgruppe fehle.
Weit über 100 Hypothesen für Kindstod
"Es gibt weit über 100 Hypothesen für die Ursachen des Kindstods. Wahrscheinlich liegt immer ein Zusammenwirken mehrerer Faktoren vor", erklärt Bajanowski. In Münster werden in einer vom Bundesgesundheitsministerium geförderten Langzeitstudie bis 2003/2004 rund 600 gestorbene Säuglinge auf den plötzlichen Säuglingstod untersucht.
Sporen können bis zu 200 Jahre überdauern
Böhnel hatte zuvor in einer europaweit einmaligen Studie in Niedersachsen Kompost-Sorten und Blumenerden analysiert, die aus den Abfällen der "Grünen Tonne" gewonnen werden. In der Hälfte der Proben seien die gefährlichen Sporen gefunden worden. "Diese werden verstärkt in den Kreislauf gebracht und können 100 bis 200 Jahre im Boden überleben", so Böhnel. Aus den Sporen können Bakterien werden, die das Gift freisetzen.
Gefährlicher Bio-Müll?
Der Professor vom Institut für Pflanzenbau und Tierproduktion in den Tropen glaubt, dass "Kompost aus der Grünen Tonne nicht sicher ist." Der Verkauf müsse gestoppt werden, bis alle Kompostierverfahren auf Botulismus-Erreger überprüft seien. Dem Umweltbundesamt in Berlin wirft der Forscher vor, die Gefahr seit langem zu kennen und zu verharmlosen.

"Wir nehmen das sehr ernst und wollen nichts auf die lange Bank schieben. Schließlich forscht Böhnel ja in unserem Auftrag", sagt dagegen Behörden-Sprecher Karsten Klenner.

Auch die zuständige Expertin des Bundesamtes, Regina Szewzyk, relativiert den Vorwurf: "Böhnel hat in den Kompost-Proben Erreger gefunden, kein Gift. Und er sagt nicht, wie hoch die Konzentration der Erreger ist."
Bakterium lebt überall
Clostridien kommen auch in der natürlichen Umgebung wie in Seen, Böden oder im Hausstaub vor. Auch Hühnermist, Schweine- und Rindergülle enthalten die Bakterien. "Wir leben nicht in einer sterilen Umwelt", sagt Szewzyk. Das Umweltbundesamt hat Böhnel nun beauftragt, einen Standardtest zum Nachweis von Botulismus-Erregern im Bio-Kompost zu entwickeln.
->   Universität Göttingen
->   SIDS Beratungs- und Forschungszentrum am AKH Wien
->   Österreichische Gesellschaft zur Erforschung des plötzlichen Kindstods
 
 
 
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01.01.2010