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Erfahrung verändert Wahrnehmung von Emotionen  
  Menschen erkennen - über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg - die selben Emotionen. Aus diesem Grund haben Psychologen lange vermutet, dass die Fähigkeit eines Menschen, wesentliche Gefühle wie "Angst" oder "Ärger" zu identifizieren, angeboren ist. Eine neue Studie wirft nun ein anderes Licht auf diese Fähigkeit und legt die Vermutung nahe, dass Erfahrungen sehr wohl die Art und Weise verändern können, wie Menschen Emotionen wahrnehmen.  
Psychologen der University of Wisconsin-Madison haben untersucht, wie Kinder Gesichtsausdrücke als "glücklich", "traurig", "ärgerlich" oder "ängstlich" kategorisieren.

Allerdings hatten die jungen Probanden bereits eine ganz bestimmte Erfahrung gemacht - physischen Missbrauch, wie die Forscher in der aktuellen Ausgabe der "Proceedings of the National Academy of Sciences" schreiben.
Computer zeigt digital veränderte Gesichter
Die Wissenschaftler untersuchten sowohl misshandelte Kinder, also auch solche, die diese Erfahrungen nicht gemacht hatten, im "Child Emotion Research Laboratory" der Universität. Das Alter der Probanden reichte von acht bis zehn Jahren.

Die jungen Versuchsteilnehmer spielten "Computerspiele", bei denen digital veränderte Fotos von Gesichtsausdrücken gezeigt wurden. Die Gesichter drückten Emotionen aus, die sich von glücklich zu ängstlich veränderten, von glücklich zu traurig, ärgerlich zu ängstlich oder ärgerlich zu traurig.
Gesichter von "ärgerlich" bis "traurig"
 
Bild: Seth Pollak/ PNAS

Die hier zu sehenden Bilderreihen zeigen jeweils von links nach rechts eine der beschriebenen Veränderungen: In der oberen Reihe von glücklich zu ängstlich, in der Mitte von ärgerlich zu ängstlich und unten von ärgerlich zu traurig. Während wenige der Bilder eine einzige Emotion ausdrückten, handelte es sich bei den meisten Photos um eine sich steigernde Mischung bzw. Überlagerung aus zwei Emotionen.
->   Eine hoch auflösende Version aller verwendeten Bildreihen
->   Prozentuale Aufschlüsselung der Variation von Angst zu Furcht
Welche Emotion zeigt sich am deutlichsten?
Bei einem der "Spiele" sahen die Kinder jeweils ein einzelnes Gesicht und mussten angeben, welche Emotion dieses am deutlichsten bzw. stärksten ausdrückte. Da viele Bilder ein Gemisch aus Emotionen zeigen, konnten die Wissenschaftler feststellen, wie die Kinder verschiedene Ausdrücke wahrnahmen.
Unterschiedliche Einordnung
Die Forscher stellten fest, dass beide Gruppen die gezeigten emotionalen Gesichtsausdrücke tatsächlich mit deutlichen Unterschieden kategorisierten.

Während sowohl die misshandelten als auch die nicht misshandelten Kinder ähnlich reagierten auf den Ausdruck von - überwiegend - Glück, Trauer oder Furcht, identifizierten die misshandelten Kinder deutlich mehr Gesichter als "ärgerlich", denn als "ängstlich" oder "traurig":

Auch wenn eines der digital hergestellten Bilder beispielsweise zu etwa 60 Prozent Furcht und nur zu 40 Prozent Ärger ausdrückte, erkannten die misshandelten Kinder - anders als die Kontrollgruppe - letztere Emotion.
Sensibler gegenüber "Ärger"
"Es gibt keine Unterschiede in der Art und Weise, wie Kinder Bilder von Gesichtern erkennen, sondern in der Art und Weise, wie sie diese Gesichter einordnen", fasst Pollak die Ergebnisse der Studie zusammen. Misshandelte Kinder seien sensibler gegenüber "Ärger" gewesen.
Angeboren kontra erlernt
Nach Ansicht des Psychologen sind diese Ergebnisse ein Beweis für die These, dass Erfahrungen die "Grenzen" beim Erkennen einer bestimmten Emotion verschieben können. Dies laufe Annahmen zuwider, dass solche Grenzen angeboren sind.

Wie Pollak erklärt, sind möglicherweise die neuronalen Prozesse angeboren, die das Gehirn verwendet, um Emotionen wahrzunehmen und zu kategorisieren.

Doch die Art und Weise, wie Menschen tatsächlich diese Ausdrücke von Emotionen wahrnehmen und verstehen, könne durch Erfahrungen geformt werden.
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Frühere Studien zeigten höhere Gehirnaktivität
Der Psychologe hat bereits in früheren Studien herausgefunden, dass sich im Gehirn misshandelter Kinder mehr Aktivitäten zeigen, als bei nicht misshandelten Kindern, wenn diesen Gesichter vorgelegt werden, die einen ärgerlichen oder zornigen Ausdruck tragen. Diese Ergebnisse passen mit den nun vorgestellten Studienergebnissen zusammen.
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Selbstschutz als Erklärung?
Pollaks Erklärungsversuch: Physisch misshandelte Kinder entwickeln möglicherweise eine "breitere Kategorie" von Ärger, da sie gelernt haben, bei Erwachsenen besonders auf diese Emotion zu achten.

Diese Empfindlichkeit könne in einer "bedrohlichen Umgebung" eine Schutzfunktion haben, meint der Psychologe. In anderen Situationen jedoch könnte diese Wahrnehmung von Nachteil sein.
Gezieltere Therapie für misshandelte Kinder
Eine mögliche Folge sind Verhaltensstörungen: Das Kind neigt dazu, soziale Signale anderer falsch zu interpretieren und reagiert darauf in "nicht angemessener Weise". Das Wissen darum könnte nach Ansicht von Pollak Psychologen dabei helfen, diese Kindern gezielter zu therapieren.

Pollak will durch seine Forschungen aber nicht nur die Effekte von Erfahrung auf die Wahrnehmung von Emotionen besser verstehen. Er sucht auch nach weiteren neurologischen Aspekten, die ebenfalls durch solche Erfahrungen beeinflusst werden.
->   "Proceedings of the National Academy of Sciences"
->   Pollaks "Child Emotion Research Laboratory"
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
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->   Rassismus: Keine Frage der Wahrnehmung
 
 
 
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01.01.2010