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Benes-Dekrete: Internationale Tagung in Wien  
  Sie haben sich von einem Spezialthema für Historiker zu einem Dauerbrenner der österreichischen Innen- und Außenpolitik verwandelt: die so genannten Benes-Dekrete. Mit diesen Dekreten ist die von der deutschen Besatzung befreite Tschechoslowakei bis zu den ersten Wahlen im Mai 1946 regiert worden. Doch unter den insgesamt 143 Erlässen, die der aus dem englischen Exil heimkehrende Edvard Benes unterzeichnet hatte, befassten sich zehn mit der Entrechtung, Enteignung und der Aberkennung der Staatsbürgerschaft der deutschen und auch der ungarischen Bevölkerungsgruppe. Diesen Benes-Dekreten widmete sich am vergangenen Freitag eine vom "Demokratiezentrum Wien" veranstaltete internationale Tagung.  
Die Mitverantwortung der Alliierten
Einen speziellen Aspekt bildete dabei die internationale Dimension dieses Themas. Der Historiker Bradley Abrams von der Columbia University in New York betonte, dass die Rolle der Alliierten zu wenig beachtet wird: "Es ist klar, dass sie diese Transfers und Ausweisungen sanktioniert haben, und man muss ihre Mitverantwortung dabei sehen.

Die tschechoslowakische Regierung hätte ihre deutschsprachige Bevölkerung ohne Zustimmung der Alliierten nicht ausweisen können, speziell ohne Zustimmung der Amerikaner und Sowjets. Denn von den 2,5 Millionen Deutschen, die mit den so genannten 'organisierten Transporten' 1946 ausgewiesen wurden, kamen Ein dreiviertel Millionen in die amerikanische Zone und 750.000 in die sowjetische Zone. Das hätte ohne deren Zustimmung nicht erfolgen können."
Thema mit vergleichsweise wenig Beachtung
Die Sowjets, so Abrams weiter, haben dem Thema erstaunlich wenig Beachtung geschenkt. Sie stimmten dem zu, was immer die Tschechoslowaken wollten. Und die Amerikaner, die ja auch nach dem Kriegsende in Europa einen Krieg im Pazifik zu führen hatten, in dieser Frage den Briten die Führung überlassen.
"Benes-Dekrete" beginnen nicht 1945
Einigkeit herrschte darüber, dass die Darstellung der Benes-Dekrete nicht im Jahr 1945 beginnen kann. Aber schon darüber, wann denn eine solche Betrachtung ansetzen müsse, kann nur schwer ein Konsens erzielt werden: 1938 mit der deutschen Besetzung zuerst der Randgebiete, dann der ganzen Tschechoslowakei? Oder schon 1918, als die deutschsprachigen Gebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens nach dem Zerfall der Donaumonarchie Teile der tschechoslowakischen Republik wurden?
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Zwei unterschiedliche Narrative
Die bekannte ORF-Journalistin und Publizistin Barbara Coudenhove-Kalergi, die aus Prag stammt und von dort als Jugendliche vertrieben worden ist, unterstrich, dass es bei Deutschen und Tschechen zwei völlig unterschiedliche Narrative gibt: Ob die Hussiten, das böhmische Barock oder die Habsburger-Monarchie - zu jeder Periode sei die Sicht aus deutscher und aus tschechischer Position diametral entgegengesetzt, und was für die Österreicher "die gute alte Zeit" ist, sei für die Tschechen die "schlechte alte Zeit". Die tschechoslowakische Republik nach 1918 war für die einen eine demokratische Insel in den autoritären und faschistischen 30er Jahren, für die anderen aber eine Zwangskonstruktion, in der sie sich national unterdrückt fühlten.
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Das "schreckliche Jahrzehnt"
Der Konflikt hat sich dann von 1938 bis 1948 bis zur Unlösbarkeit zugespitzt - im "schrecklichen Jahrzehnt", wie es von den Tschechen genannt wird, an dessen Ende die Vertreibung von über drei Millionen Deutschen und die kommunistische Machtergreifung stand.

Dieses schreckliche Jahrzehnt begann im September 1938 mit dem Münchner Abkommen, bei dem mit Zustimmung Frankreichs und Englands die Abtretung der Sudetengebiete an das Deutsche Reich beschlossen wurde.

Damals kam es zum ersten "Bevölkerungstransfer": zur Aussiedlung von mehr als 100.000 Tschechen aus den nunmehr deutschen Gebieten. 1939 folgte die Annexion des Rests des Landes durch Nazi-Deutschland und die Schaffung des so genannten "Protektorats".
"Endlösungs-Vorschläge" der Nazis
In einer geheimen Rede in Prag skizzierte 1942 der Leiter des Reichssicherheitshauptamtes, Reinhard Heydrich, die ihm und Himmler vorschwebende Endlösung für die Tschechen: entweder germanisieren oder in den Eismeer-Raum aussiedeln.

Wenig später fiel Heydrich in Prag einem Attentat zum Opfer, und als Vergeltungsaktion wurde daraufhin das Dorf Lidice dem Erdboden gleichgemacht, der Großteil der erwachsenen Bevölkerung ermordet und die Kinder des Ortes abtransportiert.
Gemeinsame Lösungen scheiterten
Mit dem Terror der deutschen Besatzungsmacht erstarkte auch der tschechische Widerstand im Land, und beides hatte auch Auswirkungen auf die Nachkriegspläne der tschechoslowakischen Exilregierung in London.

Diese führte unter der Führung von Benes mit Teilen des sozialdemokratischen Sudetendeutschen Exils um Wenzel Jaksch Gespräche darüber, wie denn eine Neugestaltung der vergifteten Beziehungen zwischen den beiden Nationalitäten nach einem Ende des Krieges möglich wäre, wobei damals auch Pläne eines teilweisen Bevölkerungstransfers diskutiert wurden. Doch diese Versuche einer gemeinsamen Lösung scheiterten.
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Ethnisch homogener Nationalstaat als Ziel
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die massenhafte Aussiedlung von Bevölkerungsgruppen noch nicht, wie heute, geächtet, sondern - im Gegenteil - als Mittel zur Lösung von Minderheitsproblemen international akzeptiert. So wurde etwa der Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei nach 1923 durchaus als Erfolg betrachtet. Der ethnisch homogene Nationalstaat war das angestrebte Ziel, und die Umsiedlung von ganzen Bevölkerungsgruppen war ein Mittel zum Zweck. Es liegt eine besondere Tragik darin, dass diese Logik der Nationalsozialisten auch von ihren Gegnern akzeptiert wurde.
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Vorherrschen der Kollektivschuld-Vorstellung
Entgegen dem Potsdamer Abkommen, das einen Bevölkerungstransfer unter "anständigen menschlichen Bedingungen" vorgesehen hatte, kam es in den ersten Monaten nach Kriegsende zu den so genannten "wilden Vertreibungen", zu zahlreichen Gewalttaten und Übergriffen.

Dabei wurde die vorgesehene Differenzierung zwischen "loyalen" und "verbrecherischen" Deutschen aufgegeben. Die Vorstellung einer Kollektivschuld, auf der auch die Benes-Dekrete aufbauten und die unserem heutigen moralischen und juristischen Empfinden widerspricht, war damals weit verbreitet.
Diskussion war unter Kommunisten tabu
In der Nachkriegs-Tschechoslowakei war die Notwendigkeit von "odsun", wie die Abschiebung auf tschechisch genannt wird, politisch von allen Lagern getragen worden. In der kommunistischen Tschechoslowakei war eine Diskussion über die Benes-Dekrete und die Vertreibung der Deutschen tabu.

Der so genannte "Transfer" galt als Friedensinstrument, der einen Schlussstrich unter die völlig verfahrene Situation zwischen Tschechen und Deutschen zog und somit mithalf, eine halbwegs stabile Nachkriegsordnung zu etablieren. Erst unter den Dissidenten der späten siebziger Jahre ist die Frage der Vertreibung wieder ein Thema geworden.
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Buchtipp:
Soeben erschienen ist der Band "Verfolgung 1945. Die Stellung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien" von Tomas ¿tanek, im Böhlau-Verlag.
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Schwieriges Eingestehen von Unrecht
Doch diese Diskussion blieb auf die Dissidentenkreise beschränkt. Als sich der frischgewählte Präsident Havel bei seinem ersten Auslandsbesuch im Jänner 1990 in Deutschland bei den Sudentendeutschen für die Vertreibung entschuldigt hatte, ist das von der tschechischen Bevölkerung nicht verstanden worden.

Doch wie schwer die Beschäftigung mit dem Unrecht fällt, an dem Repräsentanten der eigenen Gesellschaft beteiligt waren, das weiß man ja auch hierzulande. Und auch, dass es lange dauern kann, bis dieses Unrecht von der Mehrheit einer Gesellschaft eingesehen wird.
Erst EU-Beitritt, dann Versöhnung?
Für die Pariser Politologin Anne Bazin-Begley stellt der Versuch, die Frage der Benes-Dekrete mit dem EU-Beitritt Tschechiens zu verbinden, einen bedenklichen Bruch mit der bisherigen Vorgangsweise bei der europäischen Einigung dar. Bisher habe die Philosophie der europäischen Einigung darauf beruht, dass der Aufbau eines gemeinsamen Europas den Dialog und die Versöhnung möglich macht.

"Wenn nun manche Gruppen in Österreich und Deutschland verlangen, dass die historischen Konflikte zuerst gelöst werden müssen, bevor die Zukunft angegangen wird, ist das eine völlige Umkehr der Philosophie des Aufbaus Europas, und weil das den Erfolg des Prozesses der EU-Erweiterung in Frage stellt, glaube ich, dass das ganz Europa angeht."

Ein Beitrag von Peter Lachnit für die Ö1-Dimensionen vom 24. Juni 02, 19 Uhr auf Radio Österreich 1.
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01.01.2010