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Pakistan: Wo der Fußball wirklich zuhause ist  
  "Football's coming home" lautete das Motto der Fußball-Europameisterschaft 1996 in England, als das Mutterland des Fußballs nach langer Zeit wieder einen internationalen Wettbewerb ausrichten durfte. Dabei liegt die eigentliche, die heutige Heimat des Fußballs ganz woanders: in einer kleinen Region im Nordosten Pakistans, in der vier Fünftel aller Fußbälle der Welt produziert werden. Das Exportgeschäft kurbelt zwar bis zu einem gewissen Grad die Wirtschaft des Landes an, wird aber großteils von Kindern verrichtet und bietet keine zukunftsträchtigen Perspektiven.  
Jörg Zimmermann von der FU Berlin ging in einem Vortrag an der Universität Wien dieser Herkunftsgeschichte des Fußballs der etwas anderen Art auf den Grund.

Das Objekt der Leidenschaft, um das sich derzeit in Japan und Südkorea alles dreht, wird zu 80 Prozent in Sialkot, einer Stadt im pakistanischen Punjab-Gebiet, hergestellt. Mehr als die Hälfte aller Näher und Näherinnen, die in dieser Branche arbeiten, ist jünger als 17 Jahre.
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Teil einer Ringvorlesung der Uni Wien
Jörg Zimmermann vom Institut für Geographische Wissenschaften der FU Berlin sprach im Rahmen der Ringvorlesung "Global Players. Ökonomie, Politik und Kultur des Fußballs" im April dieses Jahres an der Universität Wien zum Thema " Fußbälle aus Pakistan - der globalisierte Alltag". science.ORF.at bringt in diesem Artikel eine Zusammenfassung des Vortrags.
->   Institut für Geographische Wissenschaften, FU Berlin
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Aufwändige Handarbeit
Alle Bälle werden traditionell aus 32 einzelnen Waben von Hand zusammengenäht. Diese Einzelteile, die heute aus Kunststoffen bestehen, früher aus Leder, werden industriell gefertigt.

Das Zusammennähen der Teile aber sei eine aufwändige und anstrengende Handarbeit, so Zimmermann. Sie geschieht in kleinen Werkstätten in den Dörfern der ländlichen Umgebung von Sialkot.
->   Mehr über Sialkot
60.000 Näher für 43 Millionen Bälle
Waren es 1970 noch 1,4 Millionen Bälle, die in Pakistan hergestellt wurden, so sind es heute etwa 43 Millionen im Jahr. Etwa 60.000 Näher und Näherinnen sind damit beschäftigt, mehr als ein Drittel davon ist weniger als 14 Jahre alt, mehr als die Hälfte weniger als 17.
56 Cent pro Ball
Im Schnitt können die Arbeiter und Arbeiterinnen pro Tag dreieinhalb Bälle nähen, pro Stück bekommen sie dafür nach einer Schätzung aus dem Jahr 1996 56 Cent - übertragen auf einen ganzen Monat sind das 35 Euro.

Zum Vergleich: Die unverbindliche Preisempfehlung von Adidas für den Ball "Fevernova", den offiziellen Ball der Fußball-WM in Japan und Südkorea, beträgt 100 Euro.

Zur Frage, auf welche Weise dieser eklatante Unterschied zustande kommt, gab Zimmermann den Hinweis auf die Werbeetats der Unternehmen: Bei Adidas betrug er zuletzt 750 Millionen Euro - rund 13 Prozent des Gesamtumsatzes.
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21 Prozent weniger Reallohn in zehn Jahren
Zwar stiegen die Löhne der Arbeiter in Rupien zwischen 1986 und 1996 um 100 Prozent an, im gleichen Zeitraum sanken sie aber umgerechnet in Euro um 40 Prozent - was besonders die großen Markenfirmen wie Adidas oder Nike erfreut, deren Profite dadurch enorm anwuchsen. Noch unangenehmer aus Sicht der Näher: Die reale Kaufkraft sank im Vergleichszeitraum um 21 Prozent.
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Auswirkungen der Globalisierung ...
Die Auswirkungen der Globalisierung auf die Fußball-Ökonomie Pakistans beschrieb Zimmermann folgendermaßen: Die starke Hierarchie innerhalb des Produktionsprozesses führt zu einem niedrigen Lohnniveau und verhindert die Nachfrageimpulse für den Binnenmarkt.

Trotz starker Expansion sinkt der pakistanische Wertschöpfungsanteil an der Sportartikelindustrie. Die Fußball-Exporte sind zwar wichtig für die Schuldentilgung Pakistans, können das Problem aber nicht wirklich lösen. All dies führt zu dem hohen Anteil an Kinderarbeit.
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262 Millionen Euro Umsatz
Die Fußball-Industrie Pakistans ist eine der stärksten Wirtschaftsbranchen des Landes: Was die Umsätze (2000: 262 Mio. Euro) betrifft, rangiert sie noch vor dem Maschinenbau. Rechnet man die Arbeiter in den Zulieferbetrieben hinzu, sind etwa 75.000 Menschen in ihr beschäftigt.
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... und mögliche Alternativen
Um aus diesem Teufelskreislauf herauszukommen, schlug Zimmermann drei Alternativen vor, allesamt keine Neuheiten und seit langem von entsprechenden Organisationen propagiert.

Zum ersten die Idee des "Fairen Handels", wie sie in Österreich etwa von "Transfair" betrieben wird. Faire Bälle aus Sialkot garantieren den Nähern und Näherinnen 35 Prozent höhere Löhne, höhere Exportpreise, unabhängige Inspektionen der Arbeitsplätze sowie spezielle Gruppen für Frauen, so Zimmermann.
->   Transfair
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WM-Ball 2002 kommt aus Marokko
Der offizielle Ball der Fußball-WM 2002 "Fevernova" wird nicht in Sialkot hergestellt. Der Sportartikelhersteller Adidas lässt ihn in Marokko produzieren. Indirekt beteiligt ist dabei auch die
"Österreichische Linoleum, Wachstuch und Kunstlederfabriken AG" (ÖLW) im südlichen Niederösterreich. Dort werden auf das Baumwoll-Polyester-Material, aus dem die Hülle des Balls besteht, verschiedene Polyurethanschichten (vom deutschen Pharma- und Chemiekonzern Bayer) aufgetragen, in Platten gestanzt und zur weiteren Verarbeitung nach Deutschland zu Adidas geschickt.
->   Adidas
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Fairer Handel, Aufklärung, Arbeitsrichtlinien
Zum zweiten Kampagnen ähnlich der "Clean Clothes Campaign", deren Ziel die Aufklärung der westlichen Länder ist. Hauptforderungen dieser und ähnlicher Initiativen sind die Umsetzung der Arbeitsrichtlinien der Internationalen Arbeitsorganisation ILO ("Atlanta Agreement"), die von zahlreichen Regierungen zwar unterschrieben, aber nicht realisiert worden sind.

Darunter: Vereinigungsfreiheit, Recht auf kollektive Tarifverhandlungen, keine Zwangsarbeit, keine Kinderarbeit, unabhängige Kontrollen der Arbeitsstätten, Arbeitsschutz und -zeiten.
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Pilotprojekt von Puma
Anfang Mai wurde in Köln der Kongress "Fit for Fair" abgehalten, bei dem Zeugen und Zeuginnen aus den "Zulieferbetrieben in Zeiten der Globalisierung" berichteten. Bei der von der "Kampagne für Saubere Kleidung" organisierten Veranstaltung wurde ein Pilotprojekt des Sportartikelproduzenten Puma angekündigt, bei dem unabhängige Kontrolleure die Zulieferbetriebe im Auge behalten.

Erst diesen Montag, 24. Juni, wurde Puma für die Bemühungen des Unternehmens um sozialverträgliche und umweltgerechte Produktionsstandards in seinen Herstellungsbetrieben mit dem deutschen Preis für Unternehmensethik ausgezeichnet. Puma stiftete seinerseits den Geldpreis in Höhe von 10.000 Euro an ein SOS-Kinderdorf in Sialkot.
->   Kampagne Saubere Kleidung
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Re-Regulierung der Weltwirtschaft als Lösung?
Zum dritten schlug Zimmermann nichts weniger als eine Re-Regulierung der Weltwirtschaft vor. Darin beinhaltet: verbindliche Sozialklauseln der Welthandelsorganisation WTO, die Verpflichtung der Konzerne zu höheren Importpreisen, mehr Mitbestimmungsrechte in globalen Konzernen sowie ein Schuldenerlass für die Entwicklungsländer.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
->   Kinderarbeit für den Fußball
->   Kampagne "Kick Child Labour out of the World"
->   The Dark Side of Football (Kinderarbeit in Indien)
->   Internationale Arbeitsorganisation ILO
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->   Fußball in Südamerika: Zwischen global und neoliberal
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->   Elfmeterschießen: Keine Frage des Glücks
 
 
 
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01.01.2010