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''Buch des Lebens'': Ein Interview mit Lily E. Kay  
  Noch in diesem Frühjahr soll die Gesamtsequenz des menschlichen Genoms veröffentlicht werden. Hat der Mensch damit endgültig das "Buch des Lebens" entziffert und sich zum gottgleichen Neuschöpfer seiner selbst gemacht? In einem ihrer letzten Interviews sprach die im Dezember verstorbene Wissenschaftshistorikerin Lily E. Kay darüber, warum das menschliche Genom kein "Buch des Lebens" ist.  
Mit ihrem Buch "Who Wrote the Book of Life? A History of the Genetic Code" sorgte Lily E. Kay von der renommierten Harvard-Universität im Vorjahr für Aufsehen.
Metapher vom "Buch des Lebens" irreführend
Kay, die früher selbst als Molekularbiologin arbeitete, zeigt darin unter anderem, dass der "genetische Code" - technisch betrachtet - kein wirklicher Code ist und die Metapher vom "Buch des Lebens" in die Irre führt. Kurz vor ihrem Tod im Dezember 2000 war Lily Kay in Wien, wo sie dem Universum Magazin eines ihrer letzten Interviews gab.
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Im Oktober nahm Lily E. Kay auf Einladung der ORF-Hörfunk-Wissenschaftsredaktion am Symposium "Die molekulare Medizin und ihr neuer Mensch" teil, wo sie einen Vortrag zum Thema "Molekulare Medizin - Mythen und Legenden" hielt. Das Manuskript ihres Vortrags finden Sie anbei:
->   Molekulare Medizin - Mythen und Legenden
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Der Komplexität nicht angemessen
Da die DNS kein Code sei und auch nicht wie eine Sprache funktioniere, hält Kay die Begriffe "genetischer Code" und "Entschlüsselung" nicht für angemessen. Diese Metapher sei der Komplexität des Genoms nicht angemessen.

"Das Wissen um die Abfolge der DNS-Basen bedeutet nämlich noch lange nicht, dass wir damit auch das "Buch des Lebens" entschlüsselt haben und es womöglich sogar nach unseren Wünschen und Vorstellungen umschreiben können", so Kay.
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Woher kommt diese irreführende Terminologie?
Begriffe wie "Information", "Botschaft" oder "Code" kamen in der Sprache der Biologen bis in die fünfziger Jahre hinein nicht vor. Diese Art des Denkens geht im Grunde auf die Wissenschaftler des Kalten Kriegs zurück. Denn in diesen Jahren wechselten viele Physiker, Mathematiker und Kybernetiker, die zuvor mit kriegswichtigen Dingen beschäftigt waren, in die Biologie. Sie brachten diese Metaphorik mit. Die Biologie des Lebens war für sie eine Art von strategischem Problem. Sie glaubten, dass sie ein Puzzle vor sich hätten oder einen verschlüsselten Code. Und wenn sie den knacken könnten, dann hätten sie auch das Rätsel des Lebens gelöst und könnten es kontrollieren.
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Genom nicht so leicht abzuändern
Molekularbiologen und andere Naturwissenschaftler stimmen Kays Kritik im Prinzip zu. Allerdings fehlt ihnen eine andere Begrifflichkeit, in der sie über diese Dinge sprechen könnten.

Doch Kay warnt: "Wenn wir eine Metapher wie die vom Buch des Lebens verwenden, dann müssen wir uns ihrer Reichweite und ihrer Grenzen bewusst sein. Man muss wissen, wo sie uns hilft und wo sie uns in die Irre führt." Wichtig sei, dass man nicht in den Glauben verfalle, dass das Genom so einfach zu lesen und abzuändern ist wie einen Text.

Dazu kommt, dass viel Geld in diese Forschungen fließt, die daher von ganz anderen Interessen überlagert sind.
Die Molekularbiologie: Eine gigantische Industrie
Denn die Molekularbiologie ist längst kein rein wissenschaftliches Unternehmen mehr, sondern eine gigantische Multimilliarden-Dollar-Industrie. Jede Woche wird ein Biotech-Unternehmen gegründet, und 85 Prozent aller Forscher in diesem Bereich weltweit haben entweder eine eigene Firma oder arbeiten für die Privatwirtschaft. Man findet kaum einen bedeutenden Molekularbiologen in einer wichtigeren Universität, der keine Patente hält.

Es sei zwar ein enormer Wissensfortschritt, dass 97 Prozent des menschlichen Genoms sequenziert sind. Doch, wendet Kay ein, werde das Human-Genome-Project den naiven Glauben zerstören, dass man mit dem Wissen um die Sequenzen auch schon weiß, wie man das Genom planmäßig verändern könne. "Wir wissen ja noch nicht einmal wirklich, was Gene eigentlich sind und wie sie funktionieren."
Eine Diagnose ist noch keine Therapie
Zwar lassen sich Hunderte Erbkrankheiten genetisch identifizieren. Doch über Diagnosen zu verfügen, bedeute noch lange nicht, dass man auch Therapien dafür hat.

Zu anderen Entwicklungen wie der Stammzellenforschung meint Kay, die Therapie mit Stammzellen scheine rein wissenschaftlich plausibel zu sein. Doch die Stammzellenforschung findet unter Umgehung der Genetik statt. Die Frage sei, inwieweit man durch das Einbringen von Stammzellen die biologische Ausstattung eines Menschen verändern könne.
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Schwierig sei die Übertragung der Experimente an Mäusen auf den Menschen. Die meisten dieser Experimente werden mit genetisch identischen Mäusen durchgeführt. Bislang ging man davon aus, dass der genetische Unterschied zwischen Mäusen und Menschen nicht so groß ist - weshalb viele der Experimente mit Mäusen als Modellorganismen durchgeführt werden. Kürzlich hat allerdings das Team um Craig Venter die Sequenzierung des Mäuse-Genoms abgeschlossen. Dabei stellten sie fest, dass sehr große Unterschiede zwischen jenen drei Mäusestämmen bestanden, die dafür verwendet wurden. Wenn aber nun schon die Unterschiede zwischen verschiedenen Mäusestämmen so groß sind, dann könnte das natürlich weit reichende Konsequenzen für gentherapeutische Eingriffe am Menschen haben.
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Boom um die Biotechnologie platzt demnächst
Zum Boom um die Biotechnologie meint Kay, dass das Wissen um die Gen-Sequenzen in erster Linie einen riesigen Beitrag zur biologischen Grundlagenforschung leiste: Die vergleichende Zoologie etwa werde enorm davon profitieren.

Wirtschaftlich werde der Rummel rund um die Biotechnologie demnächst platzen, weil die therapeutische Gentechnik den hohen Erwartungen nicht entsprechen könne. An den Börsen werde es zu hohen Verlusten kommen - ähnlich wie das heute mit vielen New-Economy-Werten der Fall ist.
->   Lily E. Kay
->   Nachruf
->   Universum Magazin
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Lily E. Kay: "Who Wrote the Book of Life? A History of
the Genetic Code", Stanford University Press, 424 Seiten, US-$ 24.95 (eine deutsche Übersetzung erscheint im Laufe dieses Jahres bei Hanser).
->   Eine Rezension zum Buch
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01.01.2010