News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Leben .  Wissen und Bildung 
 
Mathematische Muster formen Ameisen-Friedhöfe  
  Ameisen ordnen ihre toten Artgenossen nach mathematischen Mustern an, wenn man französischen Forschern glaubt, die die Entstehungsstrukturen solcher "Ameisen-Friedhöfe" untersucht haben. Demnach arbeiten die Insekten nach Grundsätzen, die nach Ansicht von Biologen auch für die Muster von Tierfellen und tropischen Muschelschalen verantwortlich sind. Die Theorie zu solchen Strukturbildungen wurde bereits vor rund 50 Jahren entwickelt.  
Wie das Forscherteam um Guy Theraulaz von der Universite Paul Sabatier im französischen Toulouse in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" schreibt, konnte damit erstmals ein Beispiel der so genannten Turing-Muster in Gemeinschaften höher entwickelter Organismen gefunden werden.
...
"Spatial patterns in ant colonies"
Der Artikel "Spatial patterns in ant colonies" ist als Vorab-Onlinepublikation im US-Fachmagazin "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS) erschienen und wird in einer der kommenden Print-Ausgaben erscheinen.
->   PNAS (kostenpflichtig)
...
Alan Turings Theorie der natürlichen Muster
Die Muster sind benannt nach dem Mathematiker und Logiker Alan Turing, der als "geistiger Vater" des Computers gilt. Vor rund 50 Jahren entwickelte Turing eine Theorie, die die Flecken und Streifen erklären sollte, welche spontan in der Natur auftreten.

Das eigentliche Ziel des britischen Wissenschaftlers: Er versuchte zu erklären, wie ein einzelliger Embryo zu einem Organismus heranwachsen kann, der eine hochkomplizierte Struktur aufweist.
...
Alan Mathison Turing (1912-1954)
Der britische Mathematiker und Logiker Alan Mathison Turing gilt als einer der geistigen Väter des Computers. Er entwickelte die Theorie einer universellen abstrakten Rechenmaschine - die nach ihm benannte Turing-Maschine. Ab 1945 war er am Enigma-Entschlüsselungsprogramm der Briten beteiligt und entwickelte ein Gerät, das heute als erster elektronischer Digitalcomputer gilt: Colossus. Ende der 40er Jahre widmete er sich der Frage, ob es eine denkende Maschine gebe und schlug einen Test vor, den Turing-Test.

Etwa ab 1950 widmete sich Turing kybernetischen Fragen der Biologie, also der Suche nach Steuerungs- und Regelungsvorgängen in biologischen Systemen. 1952 wurde jedoch die Homosexualität Turings öffentlich bekannt, damals noch ein unter Strafe stehendes Vergehen - zwei Jahre später brachte sich der Mathematiker nach einer erzwungenen Hormonbehandlung um.
->   Eine Alan Turing und seiner Arbeit gewidmete Website
...
Von der uniformen zur strukturierten Zelle
Turing zeigte, dass eine ursprünglich uniforme Verteilung von reagierenden Molekülen sich zu lokalisierten Klümpchen entwickeln kann, die sich in ihrer chemischen Zusammensetzung unterscheiden.

Wie er damals glaubte, könnten sich Chemikalien in einem Embryo auf diese Weise verhalten - und eine uniforme Zelle in eine Zelle mit Struktur, mit einer Art primitivem "Körperplan" verwandeln.
Berechnungen ohne Computer, keine Anerkennung
Alan Turing wird zwar gerne als "Vater" des Computers bezeichnet, zu dieser Zeit jedoch stand ihm kein solches Hilfsmittel für die schwierigen und langwierigen mathematischen Kalkulationen zur Verfügung.

Turing sah sich daher gezwungen, seine Theorie stark vereinfacht darzustellen. Als Ergebnis wurden seine Arbeiten jahrzehntelang von Biologen weitgehend ignoriert.
Die Weiterentwicklung von Turings Theorie
Erst in den 1970er Jahren schließlich griffen zwei deutsche Forscher, Alfred Gierer and Hans Meinhardt, die Turing-Muster auf und zeigten, dass die Mechanismen der Musterformation als das spezifische Beispiel eines sehr allgemeinen Prozesses betrachtet werden könnten.
Aktivierung und Unterdrückung
Die beiden Forscher haben in ihren Arbeiten generelle Prinzipien der Strukturbildung postuliert: Denmach treten Strukturbildungen auf, wenn Prozesse involviert sind, die sich selbst verstärken (Aktivierung) und das Auftreten ähnlicher Prozesse in der Nachbarschaft unterdrücken (Hemmung).

Die Aktivierung ist eine Art von Feedback-Prozess, der kleinere Variationen in der Konzentration einer Komponente verstärkt. Die Unterdrückung bzw. Hemmung dagegen ist der Zustand, der nach einer solchen Konzentration die Entstehung eines ähnlichen Punktes verhindert.

Eine Struktur entsteht also laut Gierer und Meinhardt, wenn Prozesse am Werk sind, die dazu führen, dass kleine Abweichungen nicht wieder verschwinden, sondern durch Rückwirkung auf sich selbst weiter anwachsen.
...
Beispiele für die spontane Bildung von Strukturen
Ein Beispiel: Sanddünen in der Wüste, obwohl man annehmen könnte, dass der Wind dort alle Sandkörner gleichmäßig verteilt. Strukturen können sich nach Gierer und Meinhardt bilden, wenn kleine Abweichungen von einem Gleichgewichtszustand eine solche Rückwirkung auf sich selbst haben, dass diese weiter anwachsen.

Bei der Sanddüne war beispielsweise ein Stein der Auslöser und erzeugte einen Windschatten, in dem sich Sand ablagern konnte. Dieser vergrößerte den Windschatten, dadurch lagerte sich noch mehr Sand ab usw. - ein sich selbst verstärkender Prozess. Gleichzeitig ist diese Selbstverstärkung lokal begrenzt: Hinter einer Düne trägt der Wind weniger Sand mit sich und bildet nicht sofort eine weitere Düne (Hemmung).
->   Mehr Informationen zur Arbeit von Gierer und Meinhardt
...
Ameisen-Friedhöfe und Aktivierungs-Hemmungs-Prozesse
Darauf aufbauend untersuchte das französische Forscherteam nun die Bildung von Ameisen-Friedhöfen: Ihrer Studie zufolge scheinen diese durch einen solchen Aktivierungs-Hemmungs-Prozess zu entstehen.
Keine verabredete Bestimmung des Ortes
Ameisen halten ihre Kolonien sauber, indem sie ihre toten Artgenossen in Stapeln sammeln. Dabei "vereinbaren" Ameisen nicht vorab die Plätze ihrer Friedhöfe. Die Stapel entstehen vielmehr aus den kollektiven Handlungen vieler Individuen, die herumhuschen und die toten Insekten tragen.

Irgendwie entstehen innerhalb von wenigen Stunden aus diesem unkoordinierten Verhalten dennoch geordnete, beinahe in gleichmäßigen Abständen sich befindende Stapel.
Sich verstärkender Aktivierungsprozess als Ursache?
Theraulaz und seine Kollegen glauben nun, dass sich in dieser Arbeit ein sich selbst verstärkender Aktivierungsprozess findet - denn die Ameisen platzieren laut ihrer Studie einen toten Artgenossen eher auf einem Stapel als an einem anderen Ort.

Und da das Aufheben einer toten Ameise und ihr Verbringen auf einen der Stapel den diesen umgebenden Raum säubert, wird das Entstehen neuer Friedhöfe nahe bei den existierenden Stapeln verhindert.
Mathematisches Modell zeigt ähnliche Ergebnisse
Die Forscher haben ein mathematisches Modell ausgearbeitet, das auf dem Aktivierungs-Hemmungs-Mechanismus beruht: Wie sie in den PNAS schreiben, stimmen dessen Ergebnisse mit den experimentell gemachten Beobachtungen überein, wie weit auseinander die Friedhöfe gelagert sind.
Ähnlicher Ansatz für Räuber-Beute-Verteilung
Tatsächlich wurde früher bereits vorgeschlagen, dass diese Prozesse erklären könnten, wie sich etwa Räuber und ihre Beute über eine Landfläche in einem Ökosystem verteilen.

Anhand der Ameisen wollen die Forscher nun erstmals ein solches System so genau unter Laborbedingungen vermessen haben, dass klare Beweise für Alan Turings Theorie auf der Ebene von Kolonien und Ökosystemen vorliegen.
->   Universite Paul Sabatier Toulouse
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Leben .  Wissen und Bildung 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010