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Die überschätzte Bedeutung von Spitzenpolitikern  
  Immer häufiger wird von einer "Amerikanisierung" der Politik gesprochen. Demnach treten Parteien und Parteiprogramme kontinuierlich in den Hintergrund, während die Wähler sich mehr und mehr auf die Spitzenkandidaten konzentrieren. Nun liegt die erste internationale Vergleichsstudie zum Einfluss von Kandidatenimages auf das Wählerverhalten vor - demnach wird die Bedeutung von Spitzenpolitikern allerdings völlig überschätzt.  
Sind (nicht) gefärbte Schläfen von Spitzenpolitikern wichtiger als Sachaussagen? Ersetzt der Familienbesuch im Legoland politische Programme?

Die "Amerikanisierung" der Politik schreitet immer weiter voran, diese Personalisierung und Entpolitisierung nach amerikanischem Vorbild ist eine Gefahr für unsere Demokratie, so der Tenor zahlreicher Darstellungen.
Populär, aber falsch
Diese Darstellungen sind populär - und sie sind falsch. Selbst amerikanische Präsidentschaftswahlen sind nicht sinnentleert und unpolitisch. Dies ist das Ergebnis einer umfangreichen empirischen Analyse auf der Basis von Wahlforschungsdaten, die jetzt ein Augsburger Kommunikationswissenschaftler vorlegt.

Für den Zeitraum von 1960 bis 2000 hat Frank Brettschneider 32 amerikanische Präsidentschafts-, britische Unterhaus- und deutsche Bundestagswahlen primär auf zwei Fragen hin untersucht: Welche Rolle spielen Kandidaten-Images bei der Stimmabgabe der Wähler? Und wie setzen sich diese Kandidaten-Images zusammen?
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Ab Ende Juli im Buchhandel erhältlich
Die Analyse von Frank Brettschneider ist nach Angaben des Verlages ab dem 29. Juli 2002 auch im Buchhandel erhältlich:

Titel: "Spitzenkandidaten und Wahlerfolg. Personalisierung - Kompetenz - Parteien. Ein internationaler Vergleich"

Erschienen im Westdeutschen Verlag, Wiesbaden (2002)

ISBN: 3-531-13722-0, 256 Seiten, rund 30 Euro
->   Westdeutscher Verlag
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Kandidaten kompensieren - oder verstärken - Parteidefizite
Kandidaten verleihen seit jeher dem Programm ihrer Partei Gesicht und Stimme. Sie können Defizite der Partei ausgleichen, diese Defizite aber auch verstärken, so Brettschneiders Analyse.

Kandidaten sind demnach wichtig, um die eigenen Anhänger, die Stammwähler, zu mobilisieren. Sie müssen aber auch Wechselwähler überzeugen können, die sich von Wahl zu Wahl neu orientieren.
Wichtig aus Wählersicht: Kompetenz in Sachfragen
Der ideale Kanzler soll jedoch - aus Sicht der Wähler - in erster Linie in Sachfragen kompetent sein, so das Ergebnis des Kommunikationswissenschaftlers. Dies gilt vor allem für die Wirtschaftspolitik und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.

Der Idealkanzler sei vertrauenswürdig und integer. Und er zeige Leadership-Qualitäten - er ist entscheidungsfreudig, tatkräftig, redegewandt und führungsstark, schreibt der Wissenschaftler.
Unpolitische Eigenschaften werden überschätzt
Unpolitische Merkmale oder Eigenschaften - etwa das Alter, das Auftreten oder die Ausstrahlung - werden hingegen häufig in ihrer Bedeutung für das Wählerverhalten überschätzt.

Wähler schenken ihnen zwar laut Brettschneider Aufmerksamkeit, auch reden sie mit Nachbarn oder Freunden über das Outfit des einen oder die (nicht) gefärbten Schläfen des anderen Kandidaten; wahlrelevant seien solche Themen jedoch fast nie. Dies gelte sowohl für Deutschland als auch für die USA und für Großbritannien.
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Wer steht für welche politische Richtungsvorstellung?
Für die Wahlentscheidung zählt die wahrgenommene Sachkompetenz der Kandidaten. Dabei geht es nicht um Details der Rentenreform, um Einzelheiten der Großfeuerungsanlagenverordnung oder um die Einbettung Deutschlands in ein kompliziertes außenpolitisches Geflecht.

Aber es geht um politische Richtungsvorstellungen: Welcher der Kandidaten und welche der durch die Kandidaten repräsentierten Parteien steht stärker für soziale Gerechtigkeit als der Kontrahent mit seiner Partei? Wem wird die Aufrechterhaltung innerer und äußerer Sicherheit zugetraut? Wer schafft günstige wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen? Wer setzt sich für nachhaltigen Umweltschutz ein?
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"Candidate-Voting" - je nachdem
Entgegen der Personalisierungsbehauptung sind Kandidaten-Images in den letzten Jahrzehnten für das Wählerverhalten nicht kontinuierlich wichtiger geworden, so Brettschneiders Analyse.

Stattdessen variiert das Ausmaß des kandidatenorientierten Wählerverhaltens von Wahl zu Wahl. Ob und in welchem Umfang "Candidate-Voting" stattfindet, hängt demnach von institutionellen, situativen und individuellen Faktoren ab.
Beispiel USA: Starke Orientierung am Kandidaten
Erwartungsgemäß orientieren sich Wähler im amerikanischen Präsidentialismus am stärksten an den Kandidaten - bedingt etwa durch die Direktwahl des Präsidenten, die relative lose Verbindung zwischen Partei und Kandidat und die exponierte Position der Kandidaten.

Sie seien dort wichtiger als die Parteiidentifikation, also die langfristige Bindung eines Wählers an eine Partei, so Brettschneider. Dadurch sei das Wählerverhalten in den USA flexibler, d.h. Wähler reagieren stärker auf die jeweiligen personellen Alternativen als in parlamentarischen Systemen.
Beispiel Deutschland: Bindung an Partei
Im bundesdeutschen Parlamentarismus hingegen ist das Wählerverhalten nach wie vor deutlich von der langfristigen Bindung an eine der beiden Volksparteien geprägt, wie der Kommunikantionswissenschaftler schreibt. Auch werden Spitzenkandidaten und Parteien hier eher als Handlungseinheit wahrgenommen.
Situative Einflüsse: Wie stark unterscheiden sich Parteien?
Wähler orientieren sich hingegen stärker an den Kandidaten, wenn sie zwischen den Parteien keine großen Positionsunterschiede oder keine unterschiedlichen Fähigkeiten zur Lösung politischer Probleme wahrnehmen.

Und eine Orientierung der Wähler an den Kandidaten ist vor allem dann wahrscheinlich, wenn ein Kandidat besonders positiv, sein Kontrahent hingegen negativ beurteilt wird, lautet ein Teilergebnis der Analyse.
Individuelle Prädispositionen
Entscheidend sind der Studie zufolge auch individuelle Abhängigkeiten: Bei Personen mit einer starken Parteiidentifikation ist ein Einfluss der Kandidatenorientierungen auf das Wählerverhalten die Ausnahme. Die langfristige Parteibindung wirkt dann als Filter für die Wahrnehmung und Bewertung der Kandidaten.

Wähler ohne Parteiidentifikation orientieren sich dagegen stärker an den Kandidaten. Aber auch sie bewerten die Kandidaten unter den Gesichtspunkten der Kompetenz, der Integrität und der Führungsqualitäten.
->   Kommunikationswissenschaften an der Universität Augsburg
 
 
 
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01.01.2010