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Bauern des mittleren Ostens "zivilisierten" Europa  
  Die Entwicklung des Ackerbaus gilt als ein Schlüsselereignis in der Kulturgeschichte des Menschen. Denn sie war ohne Zweifel eine notwendige Vorbedingung zur Entstehung moderner Gesellschaftstypen. Eine neue genetische Untersuchung zeigt, dass die Entwicklung der europäischen Agrikultur nicht nur durch den Import von entsprechendem Know-how zustande kam. Vor etwa 10.000 Jahren kam es offenbar auch zu massiven Einwanderungsbewegungen aus dem mittleren Osten, deren genetische Effekte bis heute in der europäischen Bevölkerung nachweisbar sind.  
Wie eine Studie von Lounes Chikhi und Mitarbeitern vom University College in London zeigt, tragen die Europäer ein umfangreiches Erbe der ersten Ackerbauern in ihren Genen.

Populationsgenetische Statistiken weisen darauf hin, dass spezielle genetische Marker zu einem hohen Anteil aus dem Ursprungsgebiet der Landwirtschaft - dem mittleren Osten - stammen. In Frankreich beträgt dieser Anteil 15 bis 30, in Griechenland sogar über 85 Prozent.

Die Studie wird demnächst im amerikanischen Wissenschaftsjournal "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS) veröffentlicht.
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->   PNAS
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Die Ursprünge der Landwirtschaft
Die ältesten Spuren von ackerbaulicher Landwirtschaft stammen aus dem Gebiet des mittleren Ostens. Ab dem 11. Jahrtausend v. Chr. sind in Palästina und im Gebiet des so genannten fruchtbaren Halbmondes domestiziertes Getreide sowie künstliche Bewässerung nachzuweisen.

Erst zwischen dem 4. und 5. Jahrtausend finden sich auch in Mitteleuropa die ersten Spuren von Ackerbau, zunächst allerdings nur in fruchtbaren Lössgebieten.
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Der fruchtbare Halbmond
Als "fruchtbaren Halbmond" bezeichnet man jenes niederschlagsreiche Winterregengebiet im Norden der arabischen Halbinsel (einschließlich des Zweistromlands zwischen Euphrat und Tigris), das die innerarabischen Trockengebiete Syriens, Saudi-Arabiens und des Irak halbkreisförmig umschließt.

Klimatisch liegt dieses Gebiet in einem Übergangsbereich zur natürlichen mediterranen Steppenzone, deren ursprünglich sehr ausgedehnte Grasländer überaus günstige Bedingungen für Viehhaltung und Getreidebau boten.

Älteste Spuren von Gerste, Einkorn (ca. 7000 v. Chr.), Emmer (Weizen) und noch heute vorkommende Wildformen von Getreidearten und Haustieren lassen den Schluss zu, dass hier Getreidebau und Haustierhaltung entstanden sind.
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Import von Wissen oder Menschen?
Anthropologen, Ethnologen und Archäologen sind sich darüber einig, dass der Übergang von der Lebensform des Jagens und Sammelns zu den Anfängen der Bodenbewirtschaftung durch eine Einfuhr von Wissen aus dem mittleren Osten ausgelöst wurde.

Allerdings stellt sich hierbei die Frage: War dieses Ereignis eine reine "Invasion der Ideen" oder war der Import von Know-how auch mit Wanderungsbewegungen nach Europa verbunden?
Bisherige Meinung: Geringe Migration
Gemäß einer im Jahr 2000 im Wissenschaftsjournal "Science" veröffentlichten Untersuchung trifft eher ersteres zu. Dabei wurden 22 genetische Marker auf dem Y-Chromosom von mehr als 1.000 Männern untersucht.

Nach der Meinung des Studienautors Luigi Cavalli-Sforza könne die europäische Bevölkerung klar von jener in Gebieten wie Syrien, Palästina oder Arabien unterschieden werden - denn weniger als ein Viertel der "europäischen" Gene fände sich auch im Genpool des mittleren Ostens.
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"The Genetic Legacy of Paleolithic Homo sapiens"
Die Studie "The Genetic Legacy of Paleolithic Homo sapiens sapiens in Extant Europeans: A Y Chromosome Perspective" von L. Cavalli-Sforza und Mitarbeitern erschien in der Zeitschrift "Science", Band 290 auf den Seiten 1155-1159.
->   Zum Abstract der Publikation
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Revidierung der bisherigen Lehrmeinung
Nach Untersuchungen von einem britischen Forscherteam um Lounes Chikhi ist diese Ansicht nun zu revidieren. Ihre Analyse fußt auf dem selben Datensatz der bereits publizierten Science-Studie.

Allerdings konzentrierten sich die britischen Wissenschaftler auf so genannte "unique event polymorphisms" (UEPs) und bearbeiteten den Datensatz mit völlig neuen, Computer-unterstützen statistischen Methoden.
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Unique event polymorphisms
Unter einem genetischen Polymorphismus versteht man ganz allgemein Differenzen in der Basenabfolge der DNA. Als "unique event polymorphisms" bezeichnet man solche Differenzen, die höchstwahrscheinlich nur einmal im Verlauf der Evolution aufgetreten sind.

Damit ist es möglich, zufällige genetische Übereinstimmungen auszuschließen und Verwandtschaftsanalysen von eng verwandten Populationen zu betreiben.
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Südosteuropa gleicht dem mittleren Osten
Ihre Analyse stellen die bisherigen Annahmen gleichsam auf den Kopf. Nach den neuen Resultaten teilen Europäer und die Einwohner des mittleren Ostens im Durchschnitt mehr als 50 Prozent der untersuchten genetischen Marker.

Die Anteile reichen von 15 -30 Prozent in Frankreich und Deutschland bis zu 85 -100 Prozent in südosteuropäischen Ländern, wie Albanien, Mazedonien und Griechenland.

Daraus folgt, dass der Import von ackerbaulichem Wissen in das jungsteinzeitliche Europa von massiven Einwanderungs-Bewegungen aus dem mittleren Osten begleitet gewesen sein muss.
Diskussion: Ergebnisse fehlerfrei?
Luigi Cavalli-Sforza hatte diese Hypothese zwar als einer der Ersten postuliert, kam aber in erwähnter Science-Studie zu einem gegenteiligen Ergebnis. Nachdem seine Resultate nun widerlegt zu sein scheinen, meldet er - erwartungsgemäß - Skepsis an.

Im Gespräch mit der Wissenschaftszeitschrift "New Scientist" warnt er, dass "möglicherweise Migrationen aus der prä- und postagrikulturellen Periode nicht klar aus dem Datensatz abgetrennt werden konnten."

Studienautor Lounes Chikhi sieht das natürlich anders. Für ihn steht fest: "Alle Europäer tragen Jäger und Sammler-Gene in sich. Sie weisen aber auch die Gene von Bauern aus dem mittleren Osten auf - in manchen Regionen sogar 70 bis 100 Prozent", so Chikhi im Gespräch mit der BBC.
->   University College London
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01.01.2010