News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Leben 
 
"Forum Alpbach": Evolution und Informationsnetzwerke  
  Die Selbstorganisation der Materie war ein wichtiger Faktor für die Entstehung des Lebens. Bei der Ausbildung immer komplexerer Organismen im Laufe der Evolutionsgeschichte dürften "Infomationsnetzwerke" und Wechselwirkungen eine große Rolle gespielt haben, die auch für das aktuelle Verständnis von kultureller Evolution und Informationsverarbeitung aufschlussreich sind, wie der Chemiker Peter Markl in einem Gastbeitrag in der science.ORF.at-Serie "Forum Alpbach" zeigt.  
Netzwerke der Evolution
Von Peter Markl

Worum es geht, hat Theodosius Dobszhansky, einer der großen Väter der modernen Evolutionstheorie, 1970 beschrieben, als er in einer Neuauflage seines Buches über die "Genetik und den evolutionären Prozess" das Thema in allen seinen Dimensionen mit nur drei Sätzen aufriss:

"Ein Mensch besteht aus einigen sieben Oktillionen (7x10 hoch 27) Atomen, die in etwa zehn Trillionen (10 hoch 13) Zellen gruppiert sind. Diese Agglomeration von Zellen und Atomen hat einige erstaunliche Eigenschaften: sie lebt und fühlt Freude und Leid; sie unterscheidet zwischen schön und hässlich und zwischen gut und böse. Wie kommt es, dass Agglomerationen von Atomen das zu leisten vermögen?"
Vorstufen des Lebens
Auch heute gibt es für das gewaltige Thema in seiner ganzen Breite noch nicht sehr viel mehr als eine Erklärungsskizze mit großen Lücken - umso lückenhafter und hypothetischer, je früher in der Evolutionsgeschichte sich die entscheidenden Entwicklungsschritte abgespielt haben müssen.

Man hat Vorstellungen darüber, wie Vorstufen des Lebens aus anorganischen Molekülen entstanden sein können; wie die Selbstorganisation der Materie unter bestimmten Bedingungen dazu geführt haben könnte, dass über die Zwischenstufe sich selbst replizierender Netzwerke von miteinander wechselwirkenden organischen Molekülen die primitiven ersten Zellen entstanden.

Schon auf der molekularen Ebene begann das Darwinsche Prinzip von Mutation und Selektion zu wirken, welches zu Lebewesen führt, die ihrer Umwelt so gut angepasst sind, dass sie die nächste Generation hervorbringen können.
...
Europäisches Forum Alpbach
"Kommunikation und Netzwerke" ist das Thema des Europäischen Forums Alpbach 2002, das vom 15. - 31. August in Alpbach/Tirol stattfindet. Aus der breiten Themenpalette der Veranstaltungen präsentiert science.ORF.at Gastbeiträge von Wissenschaftlern.
->   Europäisches Forum Alpbach/Programm
...
"Fortschritt" in der Evolution
Man hat lange Zeit die Evolution des Lebens sehr voreingenommen gesehen: als ein Paradigma des Fortschritts, einen in der Tiefe der Zeit beginnenden Prozess, der letztlich hinführt zur "Krone der Schöpfung" - den Menschen. Heute geht man mit dem Begriff "Fortschritt" viel vorsichtiger um.

Wenn man Fortschritt an der Zahl der lebenden Organismen, ihrer Vielfalt und den extremen Lebensbedingungen, denen sie sich angepasst haben, misst, dann sind die Prokaryonten, also Einzeller wie die Bakterien, die Krone der Schöpfung. (Jeder Teelöffel Humus enthält etwa zehn Billionen Bakterien).
Komplexere Organismen
Und doch: in einem kleinen Teil des Evolutionsstammbaums der Lebewesen gibt es auch einen anderen Trend, den niemand leugnen und in dem man Fortschritt sehen kann - den Fortschritt nämlich von Einzellern zu immer komplexeren Organismen.

Die Frage ist nur, wie man Komplexität messen soll. Auch wenn immer klarer geworden ist, dass es keine Maßzahl geben kann, welche alle die verschiedenen Bedeutungen erfasst, die der Begriff Komplexität in einem unterschiedlichen Kontext hat, so ist doch unleugbar, dass ein Schimpanse ein komplexeres Lebwesen ist als ein Regenwurm.
Darwin erklärt nicht alles
Erstaunlicherweise erklärt das Darwinsche Prinzip allein zwar Fortschritt in Richtung auf immer besser angepasste Lebwesen, nicht aber Fortschritt in Richtung auf Organismen immer höherer struktureller oder funktionaler Komplexität.

John Maynard Smith und Eörs Szathmary, zwei der heute weltweit führenden Evolutionstheoretiker, sind der Frage nachgegangen, wie sich Organismen immer höherer Komplexität entwickeln konnten. Sie haben auf diesem Weg eine Reihe von kritischen Entwicklungsstadien identifiziert, welche von Organisationsebenen niedrigerer Komplexität zu Organisationsniveaus höherer Komplexität führten.
...
Entwicklungen zu höherer Komplexität
Beispiele dafür sind etwa:
1) Der Übergang von Prokaryoten, also Einzellern mit meist nur einem kreisförmigen Chromosom zu den Eukaryoten, welche mehrerer stäbchenförmige Chromosomen und meist andere interzelluläre "Organellen" haben, welche von ursprünglich freilebenden Prokaryoten abstammen. Eukaryonten sind die Bauteile aller vielzelligen Organismen.
2) Der Übergang von einer asexuellen Fortpflanzung durch Bildung von Zellklonen zu den vielen Formen der sexuellen Fortpflanzung.
3) Der Übergang von einzelligen Organismen zu vielzelligen Organismen.
4) Der Übergang von einzeln lebenden (solitären) Individuen zu Individuen, die nur in sozialen Gruppen überlebensfähig sind.
5) Der Übergang von Primatengesellschaften zu menschlichen Gesellschaften mit der Erfindung der Sprache.
...
Gemeinsame Merkmale
Die Analyse solcher Übergange zeigte, dass sie gemeinsame Charakteristika haben. Zum Beispiel, dass vor dem Übergang zu einer unabhängigen Existenz fähige Entitäten nachher nur in vernetzter Wechselwirkung mit anderen Entitäten überleben können.

Oder dass der Zuwachs an Komplexität von einer nur kleinen Zahl kritischer Übergange abhängt, bei denen sich die Art ändert, wie Information gespeichert, kommuniziert, gelesen und damit für bestimmte Funktionen verfügbar gemacht wird. Sie sind damit Illustrationen für das Generalthema des heurigen Europäischen Forum Alpbach, das dem Thema "Kommunikation und Vernetzung" gewidmet ist.
...
Konnektivität als Maß der Komplexität
Eörs Szanthmary vom Kollegium Budapest und seine Kollegin Eva Jablonka von der Universität Tel Aviv werden in einem Seminar beim diesjährigen Europäischen Forum Alpbach von der Konnektivität als Maß für die Komplexität ausgehen. (Auf der Ebene der Biologie ist die genetische Konnektivität ein Maß für die im Lauf der Evolution erreichte funktionale Vernetztheit interagierender Gene). Sie werden in einer Analyse der charakteristischen Eigenschaften genetischer, epigenetischer, verhaltensgesteuerter und linguistischer Systeme zeigen, dass der Weg zu größerer Komplexität über kommunizierende, hoch kanalisierte, aber in einem gewissen Ausmaß auch noch plastische
Informationsnetzwerke geht.
...
Kulturelle Evolution
Für die Menschen endete dieser Weg nicht auf der Ebene der Biologie, wo noch die Erfindung der Sprache angesiedelt war: was ihre kulturelle Evolution und damit ihre Geschichte heute prägt, sind ganz analoge Änderungen in den Möglichkeiten, Informationen zu übertragen und zu speichern.

Die Erfindung der Schrift hat die großen Zivilisationen erst möglich gemacht. Und noch ist nicht absehbar, wie die letzte dieser Erfindungen, nämlich die elektronische Speicherung und Übertragung von Information über das Internet, die menschlichen Gesellschaften verändern wird.
...
Der Autor des Gastbeitrages
Peter Markl, geb. 1936., ist Mitglied des Kuratoriums des Europäischen Forums Alpbach; bis 2001 Prof. für Analytische Chemie am Institut für Analytische Chemie der Universität Wien; Leiter der Arbeitsgruppe für chemische Ausbildung der Gesellschaft Österreichischer Chemiker; Vizepräsident der Vereinigung Österreichischer Wissenschaftler - des Österreichischen Zweiges der Pugwash-Bewegung (Friedensnobelpreis 1995), 1988 - 1992 Mitglied des internationalen Pugwash Council; Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Karl Popper Instituts (Wien); Mitglied des Konrad Lorenz Instituts für Evolution und Kognitionsforschung (Altenberg); Freiberufliche Tätigkeit als Wissenschaftsjournalist (1971 Kardinal Innitzer Förderungspreis für wissenschaftlich fundierte Publizistik; 1972 Staatspreis für journalistische Leistungen im Dienste von Wissenschaft und Forschung).
...
->   "Forum Alpbach": Die Selbstregulation der Erde
->   Mehr über das Forum Alpbach und die Alpbacher Technologiegespräche auf science.ORF.at
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Leben 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010