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Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
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Psychoanalyse im Dialog der Wissenschaften  
  Seit ihrer Entstehung hat die Psychoanalyse mit dem Vorwurf zu kämpfen, keine eigentliche "Wissenschaft" zu sein. Karl Popper etwa galt sie als Musterbeispiel einer unwissenschaftlichen, nicht-falsifizierbaren Theorie. Zwar widersprachen Wissenschaftstheoretiker wie Adolf Grünbaum Poppers Argumenten, die Notwendigkeit, wissenschaftliche Methoden zu entwickeln, die die Wirksamkeit und Grundannahmen der Psychoanalyse auch außerhalb der therapeutischen Praxis belegen, blieb aber aufrecht. Aus diesem Grund tritt die Psychoanalyse der Gegenwart seit einigen Jahren verstärkt in einen Dialog mit ihren empirischen Nachbardisziplinen, den Kognitions- und Neurowissenschaften. Ein aktuelles Buch bietet eine Übersicht über diese interdisziplinäre Zusammenarbeit, die für alle Seiten fruchtbar sein soll.  
Ganz im Sinne Sigmund Freuds
Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, vertrat die Ansicht, dass "Geist und Seele in genau der nämlichen Weise Objekte der wissenschaftlichen Forschung sind, wie irgendwelche menschenfremde Dinge".

Seit diesem Kommentar, 1933 von Freud in "Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" festgehalten, sind fast siebzig Jahre vergangen - die aktuellen Entwicklungen der Psychoanalyse folgen jedoch dieser Forschungsmaxime wieder verstärkt.
Grundlage: Zwei österreichische Traditionen ...
Das neue, von Patrizia Giampieri-Deutsch herausgegebene Buch "Psychoanalyse im Dialog der Wissenschaft. Europäische Perspektiven" charakterisiert die Psychoanalyse als eine Wissenschaft, die das Emotionale zusammen mit dem Kognitiven in den Mittelpunkt stellt.
... Psychoanalyse und Wiener Kreis
Den erkenntnistheoretischen Rahmen für den Dialog mit den experimentellen Disziplinen bilden zwei aus Österreich stammende und in die Emigration getriebene Traditionen: einerseits die Psychoanalyse, andererseits - als Erbin des Wiener Kreises - die analytische Philosophie des Geistes ("philosophy of mind").
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Vom Linguistic Turn zum Mentalistic Turn
Aufbauend auf sprachphilosophischen Überlegungen von Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein kam es in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts philosophiegeschichtlich zum "linguistic turn". Die Philosophie fokussierte sich auf die Sprache, u.a. stand die Analyse der Begriffe des Mentalen im Zentrum: Traditionelle philosophische Fragestellungen wie das "Leib-Seele-Problem" wurden als ein Missbrauch von Sprache dechiffriert und die Möglichkeit einer an mentalen Phänomenen orientierten "Theorie des Mentalen" als eine "Philosophie der Geister" (Gilbert Ryle "Der Begriff des Geistes", 1949) belacht.

Eine gegenwärtige philosophische Entwicklung lässt aus den USA kommend das Mentale als eigenen Forschungsgegenstand wieder zu und entwickelt erneut Interesse für die Phänomene von Bewusstsein und Subjektivität. Sie läuft unter "mentalistic turn" und ihre Vertreter werden als analytische Philosophen des Geistes bezeichnet: unter ihnen Thomas Nagel, der für seinen Aufsatz (1974) "Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?" international bekannt wurde, oder Ned Block, Owen Flanagan und Patricia Kitcher. In dem Versuch, sich erneut den "letzten" Fragen der Philosophie zu stellen, etwa dem "Leib-Seele-Problem", sucht die analytische Philosophie des Geistes Kontakt mit den Kognitions- und Neurowissenschaften, z. B. mit dem Neurowissenschaftler Antonio Damasio, dessen Buch "Descartes' Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn" breit rezipiert wurde.
->   Rezension von Damasio¿s Buch "Ich fühle, also bin ich"
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Berührungen mit der Psychoanalyse
In ihrem aktuellen Buch bringt Patrizia Giampieri-Deutsch nun die Psychoanalyse mit ihrer hundertjährigen Erfahrung auf dem Gebiet des Mentalen als Gesprächspartnerin der analytischen Philosophie des Geistes ins Spiel. Sie sieht vielfältige Berührungspunkte und Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen den beiden Disziplinen.

Ein konkretes Beispiel aus ihrem Beitrag ist die Anwendung der Unterscheidung zwischen der Erste- und Dritte-Person-Perspektive aus der analytischen Philosophie des Geistes für die Psychoanalyse. Sie zeigt anhand eines Phänomens der psychoanalytische Praxis - der "projektiven Identifizierung" - auf, wie durch diese aus der analytischen Philosophie des Geistes stammende Unterscheidung die Erkenntnise der Psychoanalyse besser verstanden werden können.
->   Mehr zur Erste-Person-Perspektive in der analytischen Philosophie des Geistes
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Das Buch
Psychoanalyse im Dialog der Wissenschaften. Band 1: Europäische Perspektiven; Hg: Patrizia Giampieri-Deutsch, Kohlhammer 2002
->   Kohlhammer
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Psychoanalyse und die Neurowissenschaften
Durch die neuen Methoden der Neurowissenschaften, psychische Prozesse im lebenden Gehirn zu untersuchen ("Neuro-Imaging"), und die Verschiebung ihres Interesses vom rein Kognitiven zum Emotionalen eröffnen sich ebenfalls Möglichkeiten eines Dialogs mit der Psychoanalyse.
Atome des Denkens und Fühlens
Martha Koukkou und Dietrich Lehmann etwa führen in das vor dem Hintergrund ihrer EEG-Forschung entwickelte "Zustands-Wechsel-Modell" des Gehirns - ein system- und informationstheoretisches Gehirnmodell - ein und nähern sich psychophysiologischen "Atomen" des Denkens und Fühlens.

Sie zeigen die Bezüge ihres Modells zur Psychoanalyse, im Besonderen zum Phänomen der "Verdrängung".
->   KEY Institute for Brain-Mind Research, Uni Zürich (Dietrich Lehmann)
Psychoanalyse und Kognitionswissenschaften
Die Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleber und der Direktor des Zürcher Institutes für Robotik, Rolf Pfeifer, beschreiben die Konsequenzen der interdisziplinären Zusammenarbeit der Psychoanalyse mit den Kognitionswissenschaften.
Gedächtnis: Keine Festplatte
In ihrem Beitrag steht der Begriff der Verkörperung ("embodiment") im Brennpunkt des Übergangs vom wissenschaftlichen wie auch alltagssprachlichen Bild des Gedächtnisses als Computerfestplatte zu einem dynamischeren Bild des Gedächtnisses.

Sie stellen ein anderes Bild des Gedächtnisses vor, das auf die spezifischen Bedürfnisse und Ziele des Organismus sowie dessen "partikulären Identitäten" Bezug nimmt, und daher für das Verständnis therapeutischer Veränderungen in der Praxis der Psychoanalyse von großer Bedeutung ist.
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Veranstaltungs-Hinweis
3. Internationalen Arbeitstagung "Psychoanalysis as an Empirical, Interdisciplinary Science. On Continental and Anglo-American Research"
22. - 24. November, Veranstalter: Österreichischen Akademie der Wissenschaften
->   Mehr über die Tagung
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Empirische psychoanalytische Forschung: Harte Daten
Weiters stellt das Buch Ergebnisse der psychoanalytischen empirischen Forschung vor, mit der neben weichen "klinischen" auch harte "experimentelle" Daten u.a. für die interdisziplinäre Kommunikation zur Verfügung gestellt werden können.
Mimische Interaktion zwischen Therapeut und Patient
Der Affektforscher Rainer Krause etwa stellt seine empirische Forschung über die mimische, nonverbale Interaktion zwischen Therapeut und Patient vor. Und zwar in der psychoanalytischen Psychotherapie vor, die im Unterschied zur klassischen Psychoanalyse im Sitzen stattfindet.

Sein Resümee: schlechte Resultate in der Therapie hängen mit kongruenten Reaktionen des Therapeuten zusammen - also mit solchen, in denen sich der Therapeut auf den Affekt bzw. die Mimik des Patienten abstimmt.

Gute Resultate hingegen ergeben sich, wenn der Therapeut einen Affekt zeigt, der den Worten des Patienten entspricht, aber nicht seinem mimischen Ausdruck ("komplementäre Reaktion").
Linguistische Analyse des therapeutischen Prozesses
Erhard Mergenthaler und Friedemann Pfäfflin schließlich untersuchen den Ablauf von Psychoanalysen und Psychotherapien. Das "Therapeutische Zyklusmodell", das sie vorstellen, ist ein linguistisches Verfahren zur Messung therapeutischer Veränderungsprozesse.

Anhand einer Sprachanalyse von Stundentranskripten werden Emotions- und Abstraktionsmuster sowie bedeutende Ereignisse ("shift-events") herausgearbeitet. Das Modell ermöglicht eine Beschreibung des Verlaufs der verbalen Interaktion zwischen Patient und Therapeut und gibt auf empirischer Basis Einblicke, wann und wie Psychotherapien wirken.

Insgesamt leistet das von Giampieri-Deutsch herausgegebene Buch einen wesentlichen Beitrag zum Dialog der Psychoanalyse mit ihren Nachbarwissenschaften.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at
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Die Herausgeberin
Patrizia Giampieri-Deutsch ist Psychoanalytikerin, Lehranalytikerin und ordentliches Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV)/International Psychoanalytical Association (IPA) sowie Research Fellow der International Psychoanalytical Association (IPA). Sie ist Universitätsdozentin und Inhaberin der Hertha Firnberg-Stelle für analytische Philosophie des Geistes und Psychoanalyse an der Universität Wien.
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->   Wiener Psychoanalytische Vereinigung
->   Österreichische Akademie der Wissenschaften
Weiterführendes zum Thema:
->   Der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Adolf Grünbaum
->   Der analytische Philosoph Gilbert Ryle
->   Ned Block, a Philosopher of Mind
->   Links zur analytischer Philosophie des Geistes und zur Bewusstseinsforschung
->   What is cognitive science? (Georgetown University)
->   The emotional brain, LeDoux Laboratorium, New York University
 
 
 
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01.01.2010