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Die Natur der Lüge  
  "Du sollst nicht lügen" lautet die achte von zehn bekannten Verhaltensregeln, die einst in Stein gemeißelt worden sein sollen. Ob man sich bei der prinzipiellen Vermeidung von Betrug und Lügen nun auf alttestamentarische Überlieferungen oder rationale Konzepte beruft - die Sinnhaftigkeit dieser Forderung werden nur wenige bestreiten. Nur: Wie stellt der Mensch sicher, dass sich auch die anderen an diese Forderung halten? Amerikanische Forscher haben diese Frage nun aus der Sicht der Evolutionspsychologie analysiert. Ihr Ergebnis: Unsere soziale Intelligenz erkennt sozialen Betrug mittels eines spezialisierten Verrechnungsmechanismus, der unabhängig von anderen Schlussfolgerungen funktioniert - und diese Fähigkeit besteht offenbar unabhängig vom kulturellen Umfeld.  
Zwei Forschergruppen um die US-amerikanische Evolutionspsychologin Leda Cosmides von der University of California, Santa Barbara, haben das Phänomen der sozialen Kommunikation beim Menschen untersucht.

Die eine Gruppe konzentrierte sich auf neurologische, die zweite auf ethnologische Befunde. Die beiden zeitgleich in den "Proceedings of the National Academy of Sciences" erschienen Publikationen unterstützen folgende These:

Die zwischenmenschliche Kommunikation wird durch eine unabhängige Komponente unserer sozialen Intelligenz überprüft. Dies ist ein Mechanismus, der betrügerischem Verhalten Einhalt gebietet.
"Ein Schimpanse ist gar kein Schimpanse"
Der amerikanische Psychologe Robert Mearns Yerkes bemerkte einmal: "Ein Schimpanse ist gar kein Schimpanse".

Er meinte damit, dass das Sozialverhalten unserer nächsten Verwandten ein derart essenzieller Bestandteil deren artspezifischer Eigenschaften sei, dass man bei alleinstehenden Individuen streng genommen gar nicht von Schimpansen sprechen könne.
Der nackte Affe
Betrachtet man den Menschen als sozialen Primaten, dann gilt der Yerkessche Aphorismus wohl auch für ihn. Doch das soziale Zusammenleben hat seine Schattenseiten: Denn die Interaktion in Gemeinschaften beinhaltet nicht nur gegenseitige Hilfe, sondern auch deren Gegenteil: den sozialen Betrug.
Homo homini lupus?
Hier stellt sich die grundlegende Frage: Wie kann gemeinnütziges Verhalten bestehen bleiben, wenn es "Trittbrettfahrer" gibt, die zwar die Vorteile der Gemeinschaft nutzen, aber selbst keinen Beitrag für die Allgemeinheit leisten wollen?
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Altruismus und Egoismus
In der Terminologie der Soziobiologie kennzeichnet man diesen Gegensatz auch durch die Begriffe "Altruismus" und "Egoismus". Die evolutionäre Spieltheorie kennt eine Antwort auf deren (vermeintlichen) Gegensatz:

Gegenseitige Hilfestellungen (nach dem amerikanischen Soziobiologen R. Trivers auch "reziproker Altruismus" genannt) werden dann aufrechterhalten, wenn eine Tierart - grob gesagt - zu zwei Dingen befähigt ist:

1. Die Tiere (wieder-)erkennen einander als Individuen, und
2. Betrüger werden beim nächsten Zusammentreffen sanktioniert.
M.a.W.: Nach der Inanspruchnahme von Hilfe ohne Gegensleistung gehen Trittbrettfahrer beim nächsten Mal leer aus.
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Neurologie des Sozialverhaltens
Aus Sicht der Evolutionspsychologie ist es nun interessant zu untersuchen, wie der Mensch auf sozialen Betrug reagiert bzw. reagieren kann.

Ein Forscherteam um Valerie E. Stone und Leda Cosmides hat Befunde gesammelt, die darauf hinweisen, dass ein Bewertungssystem für die soziale Kommunikation in einem speziellen Teil des Gehirns aufzufinden ist.

Sie stützen sich dabei auf Daten, die sie an dem Probanden "R.M." sammelten, der sich vor 25 Jahren bei einem Fahradunfall schwere Hirnschäden zugezogen hatte. Konkret betroffen war vor allem das so genannte limbische System - ein Hirnzentrum, in dem vor allem gefühlsbetonte Informationen verarbeitet werden.
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"Selective impairment of reasoning"
Die Studie "Selective impairment of reasoning about social exchange in a patient with bilateral limbic system damage" von Valerie E. Stone, Leda Cosmides und Mitarbeitern erschien als Online-Vorabpublikation in den "Proceedings of the National Academy of Sciences".
->   Zum Abstract des Artikels
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Verschiedene Problemtypen...
Sie konfrontierten den Probanden mit einem Fragenkatalog, der zwei Typen von Problemstellungen enthielt:

Das Beurteilen von sozialen Regeln ("Wenn man diese Hilfestellung bekommt, muss man jene Gegenleistung erbringen") sowie von allgemeinen Sicherheits-Bestimmungen ("Wer diese gefährliche Aktivität verfolgt, muss jene Vorsichtsmaßnahme treffen").
...werden vom Gehirn unabhängig bearbeitet
Der untersuchte Patient R.M. konnte ohne Probleme den Sinn von neutralen Sicherheitsvorschriften erkennen. Bei der rationalen Beurteilung sozialer Kontrakte war R.M. jedoch oft außerstande, das Verhalten von Menschen zu begründen. Daraus ziehen die Forscher folgenden Schluss:

Die logische Beurteilung von Sozialverhalten besteht unabhängig von anderen Begründungsfunktionen - und ist damit ein spezialisierter Teil der allgemeinen sozialen Intelligenz.
Der interkulturelle Vergleich
Das zweite Forscherteam um Leda Cosmides betrachtete eine ähnliche Fragestellung aus ethnologischer Perspektive: Sie verglichen Harvard-Studenten mit Vertretern der Shiwiar - einem Volksstamm aus dem Amazonasgebiet in Ecuador.
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"Cross-cultural cognitive adaptations for social exchange"
Die Studie "Cross-cultural evidence of cognitive adaptations for social exchange among the Shiwiar of Ecuadorian Amazonia" von Lawrence S. Sugiyama, John Tooby und Leda Cosmides erschien als Online-Vorabpublikation in den "Proceedings of the National Academy of Sciences".
->   Zum Abstract des Artikels
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Sozialer "Lügendetektor" als interkulturelle Konstante
Das Ergebnis: Obwohl die Testpersonen aus völlig unterschiedlichen Kulturen stammen, war bei ihnen kein Unterschied bei der Erkennung von sozialen Betrügern nachzuweisen.

Nach der Logik der evolutionären Psychologie lässt dies folgenden Schluss zu: Kontrollmechanismen des Sozialverhaltens sind so genannte evolutionsstabile Strategien - und sie bestehen unabhängig vom kulturellen Kontext.
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   Studie: Die meisten Menschen lügen beim Smalltalk (11.6.2002)
->   Wie das Gehirn lügt und Wahrheit spricht (13.11.2001)
 
 
 
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01.01.2010