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"Forum Alpbach": Was heißt kulturelle Globalisierung?  
  Mit kultureller Globalisierung wird von Kritikern häufig die Angst vor dem Verlust von gewachsenen Traditionen und Authentizität in nationalen Kulturen verbunden. Befürworter sehen aber auch Befreiungschancen durch Modernisierung. In vielen postkolonialen Ländern kann dabei der selbst erzeugte Homogenisierungsdruck durch Chauvinismus und Fundamentalismus sogar bedrohlicher für die kulturelle Vielfalt erscheinen, als die fremdbestimmte Globalisisierungswelle, wie der Germanist Anil Bhatti exemplarisch am Beispiel Indiens in einem science.ORF.at-Gastbeitrag in der Reihe "Forum Alpbach" zeigt.  
Aspekte der kulturellen Globalisierung
Von Anil Bhatti, New Delhi

Bekanntlich ist es schwierig, Einigkeit über Kulturfragen zu erzielen und dies ist auch der Grund, weshalb es verhältnismäßig leichter ist, sich über Nutzen und Nachteil der ökonomischen Globalisierung (sei es als Befürworter oder als Gegner) zu verständigen, als über Fragen der kulturellen Globalisierung.

Die jungen Leute, die gegen die Globalisierung bei den verschiedenen Weltwirtschaftsgipfeln protestieren, haben andere Werte und Ziele im Kopf, als die Fundamentalisten und Diktatoren, die den kulturellen Authentizitätsverlust in ihren Machtbereichen beklagen und sich manchmal auch per Gewalt gegen die sogenannte kulturelle Globalisierung und Überfremdung wenden.
Kultur im Singular und Pluralismus
Etwas vereinfachend kann man zwei dominante Positionen in der Diskussion über kulturelle Globalisierung feststellen. Diejenigen, die das Authentizitätsargument betonen, beklagen den Identitätsverlust und den Traditionsschwund in ihrer nationalen Kultur, die stets im Singular vorgestellt wird.

Andere sehen die Modernisierungsschübe, die Demokratisierung des Informationsflusses, die Überwindung des Patriarchats und des Feudalismus letztendlich als Vorteile, die im Prozess wechselseitiger internationaler Vernetzung entstehen. In diesem Fall wird Kultur stets pluralistisch konzipiert.
Kulturelle und ökonomische Globalisierung
Die Gegner der kulturellen Globalisierung sind interessanterweise nicht unbedingt Gegner der ökonomischen Globalisierung. Indiens hindu-chauvinistische Regierung zum Beispiel greift die Säkularisierung an, marginalisiert die Minoritäten und pocht auf die Durchsetzung eines ¿Hindutums¿ (Hindutva) in ganz Indien.

Sie ist aber gleichzeitig für die Marktwirtschaft (nicht die soziale) und ist "High-Tech" orientiert. Die spöttische Bezeichnung "Toyota-Hinduism" für die Ideologie dieser Partei erfasst die Lage ziemlich genau.
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Europäisches Forum Alpbach
"Kommunikation und Netzwerke" ist das Thema des Europäischen Forums Alpbach 2002, das vom 15. - 31. August in Alpbach/Tirol stattfindet. Aus dem breiten Themenspektrum der Veranstaltungen präsentiert science.ORF.at Gastbeiträge von Wissenschaftlern.
->   Europäisches Forum Alpbach/Programm
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Chancengleichheit als Fiktion?
Die Befürworter kultureller Globalisierung als Befreiungschance sehen in der ökonomischen Globalisierung wiederum häufig die Festschreibung der ökonomischen Ungerechtigkeit; sie klagen die Behauptung, dass Globalisierung Chancengleichheit schaffe, als Zynismus an, denn bestehende Machtverhältnisse und Hierarchien würden faktische Chancengleichheit nur als Fiktion durchschimmern lassen.

Aus dieser Sicht kann es einen grundsätzlichen Widerspruch zwischen lokaler Kultur und "wurzelloser" Globalisierung nur für diejenigen geben, die von einer statischen monolithischen Kulturauffassung ausgehen.
Am Beispiel Indiens
In postkolonialen Ländern wie Indien macht sich das in vielen Alltagsbeispielen bemerkbar. Manche Proteste gegen die Entwicklungstendenzen in den Medien und in der Kulturindustrie sind suspekt, weil sie durch eine Sehnsucht nach der Beibehaltung einer intakten patriarchalischen Gesellschaft mit ihren sexuellen Codes getragen sind.
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Fast Food und Überfremdung
Fast Food-Ketten sind ein anderes beliebtes Thema für Globalisierungsgegner, weil McDonalds&Co angeblich Überfremdung bedeuten. Nun gibt es in Indien zum Beispiel eine nicht auszurottende genuine indische Fast Food-Kultur, die garantiert nicht untergehen wird, weil ihr Geschmacksniveau einfach zu hoch ist. McDonalds hat aber auch Erfolg. Eine gewisse ¿neureiche¿ Klientel¿ geht dorthin und selbstverständlich passt sich McDonalds an lokale Verhältnisse an. Rindfleisch etwa wird nicht angeboten. Huhn und Vegetarisches überwiegen. Ähnlich wie multinationale Zahnpasta- und Waschmittelfirmen passen sich ausländische Essensketten an lokale Verhältnisse und deren System von Signifikanten an.
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"Weltsprache" und Mehrsprachigkeit
Ein anderes in Europa oft diskutiertes Beispiel, das häufig für Verwirrung sorgt, betrifft die Erfolgsgeschichte der englischen Sprache und die Abwehrhaltung etwa Frankreichs dagegen.

Wie der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel betont, setzt sich Englisch nicht in erster Linie international durch, weil es von einer wirtschaftlichen Supermacht getragen wird, sondern weil es eine flexible, wandlungsfähige Sprache geworden ist. Puristen prallen an ihr ab.
Eine europäische Antwort
Gemäß einer Grundregel der Mehrsprachigkeit kann sich ein "Basic English" eher ohne Verletzung der grammatikalischen Ästhetik durchsetzen, als etwa Deutsch, Französisch oder Russisch.

Die Antwort auf die Präsenz des Englischen wäre doch eher in der Entwicklung einer kontinentaleuropäischen Mehrsprachigkeit zu suchen. Dann müssten deutsche und französische Politiker sich nicht auf Englisch verständigen.
Chauvinismus und Fundamentalismus
Es wird häufig übersehen, dass man keine Globalisierungskräfte braucht, um nationale Kulturen zu zerstören. Chauvinistische und fundamentalistische Bewegungen können zum Schaden eben jener nationalen Kultur, die es zu verteidigen gilt, beitragen. In Indien zum Beispiel arbeiten fundamentalistische Kräfte an einem Projekt der Nivellierung und Homogenisierung der Gesellschaft.
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Homogenisierung des Hinduismus
Religiöse und kulturelle Diversität sind das Opfer. Eine tolerante, diffuse Religion wie der pluralistische Hinduismus soll nun im Gewand eines aggressiven "Hindutva" homogenisiert werden. Hass und Marginalisierung der Minoritäten sind das Ergebnis.
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Hinweis auf Widersprüche
Der Widerspruch besteht nicht zwischen Globalisierung und indigener Authentizität, sondern zwischen Homogenisierung und Diversität. Überall dort, wo man "organische" Kulturen und Gemeinschaften herzustellen versucht, entstehen Spannungen, die letztendlich zum Zusammenbruch plurikultureller Formationen führen.
Befreiung vom Kolonialismus und Emanzipation
Das moderne Indien ist ein Resultat von zwei gleichzeitigen Kampfprozessen; nämlich dem Befreiungskampf gegen den Kolonialismus und dem Emanzipationskampf gegen den Feudalismus, und dies bedeutet, dass Kulturargumente in Indien zum umstrittenen Terrain werden.
Die Folgen eines hegemonialen Kulturbegriffes
Im multikulturellen indischen Staat führt die Normierung eines hegemonialen Kulturbegriffs zur Homogenisierung und Nivellierung der Diversität, und dies wiederum führt zur Dominanz der Majorität (d.h. Hindus) im Staat. Innerhalb dieser Majorität werden dann wiederum hegomoniale Strukturen (Klasse, Kaste) gefestigt.
Umkämpftes Terrain
Der Gebrauch des Kulturbegriffs signalisiert, dass wir ein umkämpftes Terrain betreten. Nur heißen die Trennungslinien nicht Ausland versus Inland, sondern eher unterschiedliche fundamentalistische Interessenlagen versus transnationale Solidaritätslinien.
Mainstream und "Kulturreservate"
Homogenisierung der pluralistischen Tradition bedeutet auch, dass Strukturen der "Inklusion" und "Exklusion" geschaffen werden. Volkstraditionen werden von der Hochkultur ausgeschlossen und gehören dann in die Kulturreservate.

Ebenso werden Frauen und Dalits (die sogenannten Unberührbaren) vom "Mainstream" ausgeschlossen. Gegen Fundamentalismen jeglicher Richtung (Hindu, Moslem, Sikh und Christen) betont der Säkularismus als Gegenbild, dass Mischkulturen positive Werte verkörpern.
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Kultur als "ways of struggle"
Kultur als System der Bedeutungen, die eine oft verwirrende Skala von Diversität umfassen, kann im Zeitalter der Globalisierung kaum mehr als ein organisches Ganzes, das als ¿way of life¿ charakterisiert wird, bezeichnet werden, sondern ist eher als ¿ways of struggle¿ zu sehen. Die Spannung liegt überall zwischen dem Druck, ein organisches Ganzes herzustellen und dem Ziel, säkulare plurikulturelle Gesellschaften zu ermöglichen.
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Homogenisierung als Gefahr
Im Zusammenhang solcher kultureller Konflikte geht es, meines Erachtens, nicht so sehr um einen Konflikt zwischen dem vermeintlich Fremden und dem vertrauten Autochthonen.

In Indien, das ich hier nur als Beispiel für viele postkoloniale Länder eingeführt habe, geht es eher um die Verteidigung der indischen Gesellschaft gegen die Konstruktion einer Hindu-Gemeinschaft.

Ich sehe heute weniger eine fremde Globalisierungswelle, die das authentisch Indische niederwalzt, als eine Interessenkoalition, die durch Homogenisierungsdruck kulturelle Diversität unterminiert.
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Der Autor des Gastbeitrages
Anil BHATTI, Univ.-Prof., Dr. ist Professor am Centre of German Studies, Jawaharlal Nehru University, New Delhi. Geboren 1944 in Simla/Indien; 1965-71 Universität München (Germanistik, Politikwissenschaft, Philosophie) seit 1971 am Centre of German Studies in New Delhi; Präsident der Goethe Society of India; Präsident am INST (Institut zur Erforschung und Förderung österreichischer und internationaler Literaturprozesse).
Publikationen: 'Jewish Exile in India' (Hrsg.) BHATTI, Anil und VOIGT, Johannes, NewDelhi, 1999; 'Reisen, Entdecken, Utopien' (Hrsg.) BHATTI, Anil und TURK, Horst, Bern,1998;'Kulturelle Identität' (Hrsg.) BHATTI, Anil und TURK, Horst, Berlin,1997.
->   Mehr über Biographie und Publikationen von Anil Bhatti
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Weitere Beiträge in der Reihe "Forum Alpbach"
->   Peter Markl: Netzwerke der Evolution
->   Wolfgang Wieser: GAIA - Die Erde als ein Geo-Bio-Ökosystem
->   Mehr über das Europäische Forum Alpbach und die Alpbacher Technologiegespräche in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010