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Die molekulare Evolution des "Sprach-Gens"  
  Im letzten Jahr erregte die Entdeckung des Gens "FOXP2" allgemeines Aufsehen, da dieses mit der Entwicklung von menschlicher Sprache bzw. Sprechfähigkeit in Zusammenhang gebracht werden konnte. Deutsche und englische Wissenschaftler haben dieses Gen nun analysiert und mit seinen verwandten Formen bei den Menschenaffen, dem Rhesusaffen sowie der Maus verglichen. Das Resultat: Die Unterschiede sind äußerst gering. Das menschliche Genprodukt unterscheidet sich vom Maus-Protein nur durch drei Aminosäuren, beim Schimpansen sind es derer nur zwei. Die Forscher ziehen daraus eine provokante Schlussfolgerung: Diese Aminosäuren-Substitutionen seien dafür verantwortlich, dass aus den Vorläufern des Menschen sprachfähige Wesen entstanden.  
Im Jahr 2001 entdeckte ein Forscherteam um Cecilia S. Lai vom Wellcome Trust Centre for Human Genetics, University of Oxford, erstmals ein Gen, das in enge Verbindung mit der Sprachentwicklung des Menschen gebracht werden konnte.

Der von ihnen aufgespürte Erbfaktor trat in einer Familie auf, in der eine auffällige Häufung sprachlicher Störungen vorkam. Viele Familienmitglieder hatten - bei sonst völlig normalem Intelligenzquotienten - Schwierigkeiten, Mund und Zunge kontrolliert zu bewegen - mit dem Ergebnis, dass deren Artikulationen für Außenstehende kaum verständlich waren.
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"A gene is mutated in a severe speech disorder"
Die Studie "A forkhead-domain gene is mutated in a severe speech and language disorder" von Cecilia S. Lai und Mitarbeitern erschien in der Wissenschaftszeitschrift "Nature" (Band 413, auf den Seiten 519 - 523).
->   Zum Artikel (kostenpflichtig)
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Die Entdeckung des "Sprach-Gens"
Die Genetiker aus Oxford machten einen auf dem Chromosom 7 lokalisierten Erbfaktor für diese Störung verantwortlich. Das betreffende Gen mit dem Namen "FOXP2" codiert für einen so genannten Transkriptionsfaktor.

Lai und ihre Mitarbeiter konnten nachweisen, dass alle erkrankten Mitglieder der Familie eine mutierte Form dieses Gens in ihrem Erbgut tragen.
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Transkriptionsfaktoren
Transkriptionsfaktoren sind DNA-bindende Proteine, die aktivierend oder hemmend auf die Transkription (d.h. die Herstellung von RNA, während die DNA als Matrize fungiert) eines oder mehrerer Gene einwirken. Transkriptionsfaktoren werden nach ihrer Struktur klassifiziert: So unterscheidet man etwa "Zink-Finger Proteine", "Helix-loop-helix Proteine" und "Leucin-Zipper Proteine", deren Namen sich von ihrer räumlichen Gestalt ableiten.
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FOXP2 ist nötig, um sprechen zu können
Die Schlussfolgerung dieser Entdeckung lautete: Die Existenz von FOXP2 ist offensichtlich eine notwendige Vorbedingung für die Entstehung der menschlichen Sprache - bzw. präziser: der menschlichen Sprechfähigkeit.
Die molekulare Evolution von FOXP2
Einen Gruppe von Genetikern und Anthropologen um Svante Pääbo, den Direktor des Max Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, ging nun einen Schritt weiter. Das deutsch-englische Forscherteam zeichnete jenen Weg nach, den FOXP2 im Laufe seiner molekularen Evolution beschritten hat.
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"Molecular evolution of FOXP2"
Die Studie "Molecular evolution of FOXP2, a gene involved in speech and language" erschien zunächst als Online-Vorabpublikation auf der Website des Wissenschaftsmagazins "Nature". Die Arbeit wird in einer der folgenden Printausgaben des Magazins publiziert.
->   "Nature"
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Zwischenartlicher Vergleich: Kaum Unterschiede
Zu diesem Zweck verglichen sie die Basensequenz des menschlichen FOXP2-Typs mit jener der homologen Gene bei den drei Menschenaffen sowie bei Rhesusaffen und Mäusen. Das Ergebnis der molekularen Analyse:

Das Genprodukt von FOXP2 besteht aus 715 Aminosäuren und stellt ein ausgesprochen konserviertes Gen dar. Das bedeutet, dass dessen evolutionäre Veränderung sehr zäh verlaufen ist - und sich daher kaum Unterschiede zwischen den untersuchten Tierarten ausmachen lassen.

Sieht man von einer speziellen Sequenz im genetischen Code für POXP2 ab, dann unterscheidet sich die Maus-Version des Genprodukts nur durch drei, die Schimpansen-Version sogar nur durch zwei Aminosäuren von jener des Homo sapiens.
Bedingen Mutationen die Sprechfähigkeit?
Aus anatomischen Studien weiß man, dass die Sprechfähigkeit von der fein abgestimmten Beweglichkeit von Mund und Kehlkopf abhängig ist. Schimpansen und die anderen Menschenaffen sind dazu nicht in der Lage.

Die Forscher um Svante Pääbo spekulieren nun in ihrer Publikation, dass die kleinen evolutionären Veränderungen in FOXP2 den Menschen in die Lage versetzt haben könnten, diese feinmotorischen Kompetenzen zu erwerben.
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Die Hypothese im Wortlaut
In der "Nature"-Veröffentlichung schreiben die Forscher: "Wir spekulieren, dass einige humanspezifische Eigenschaften von FOXP2, vielleicht eine oder beide Substitutionen von Aminosäuren im Exon 7 (ein Bereich des Gens, dessen Code in ein Protein "übersetzt" wird, Anm. d. Red.), die Fähigkeit zu kontrollierten Kieferbewegungen beeinflusst - und damit die Entwicklung von gesprochener Sprache nach sich zieht.
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Das Gegenargument: Sprechen ist nicht gleich Sprache
Gesetzt den Fall, dass sich diese Hypothese bestätigen ließe, wäre allerdings anzumerken, dass allein die anatomische Sprechfähigkeit noch keine Sprache mit all ihren kulturellen Implikationen macht.

Denn: Ist aus dem Ausbleiben der Sprechfähigkeit durch eine mutierte Form von FOXP2 der Umkehrschluss zu ziehen, dass die Anwesenheit des Gens das vollständige Phänomen der Sprache erzeugt?

In diese Richtung argumentiert auch der Theologe John F. Haught von der Georgetown University in Washington DC. Er kommentiert die Veröffentlichung von Pääbo und seinen Mitarbeitern folgendermaßen:

"Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass unsere sprachlichen Kapazitäten ohne FOXP2 verschwänden, so würde daraus nicht logisch folgen, dass dies eine ausreichende Erklärung des menschlichen Sprachvermögens ist."

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
 
 
 
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01.01.2010