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Anlage oder Umwelt? Gene beeinflussen Hirnstruktur  
  Der Streit um die Frage, ob genetische Anlagen oder die Umwelt einen größeren Einfluss auf unser Denken haben, ist so alt wie die Hirnforschung selbst. Eine wissenschaftliche Überprüfung des Einflusses der Gene auf die Struktur des Gehirns war bisher allerdings beschränkt auf grobe Faktoren, wie das Volumen des Gehirns oder seiner Teile. Erstmals haben nun deutsche und amerikanische Forscher einen starken genetischen Einfluss auf neuronale Schaltkreise, die für die Verarbeitung visueller Informationen verantwortlich sind, nachgewiesen: Danach ähneln sich neuronale Aktivitätsmuster in der Sehrinde des Gehirns nah verwandter Tiere viel stärker als bei nichtverwandten Tieren.  
Dieser Durchbruch gelang mit neuentwickelten mathematischen Verfahren, die es erlauben, feinste Unterschiede der neuronalen Aktivitätsmuster zu erfassen.

An dem interdisziplinären Forschungsprojekt waren Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Strömungsforschung (Göttingen), dem Kavli Institute for Theoretical Physics der UC-Santa Barbara (USA) und dem Leibniz-Institut für Neurobiologie (Magdeburg) beteiligt.
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"Genetic influence on neocortical architecture"
Die Studie "Genetic influence on quantitative features of neocortical architecture" von Matthias Kaschube, Fred Wolf, Theo Geisel und Siegrid Löwel erschien in der aktuellen Ausgabe des Journal of Neuroscience (15. August 2002, Band 22, auf den Seiten 7206-7217).
->   Zum Abstract des Artikels
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Vom Reiz zum Sehen
Äußere Reize werden in den neuronalen Schaltkreisen des Gehirns durch Aktivitätsmuster verarbeitet. Während wir zum Beispiel diesen Text lesen, werden Hunderte Millionen von Nervenzellen in räumlichen Mustern in unserer Großhirnrinde aktiviert, um diese visuellen Informationen "abzuarbeiten".
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Anatomie der Sehrinde
Diese Muster sind in den Gehirnen verschiedener Individuen sehr unterschiedlich: Die Aktivitätsmuster setzen sich in der Sehrinde aus so genannten lokalen Domänen aktivierter Nervenzellen zusammen.

Sie sind einige hundert Mikrometer groß und enthalten Nervenzellen, die visuelle Informationen aus einem kleinen Bereich des Gesichtsfeldes analysieren. Die gesamte visuelle Information wird dann durch die Gesamtheit aller Aktivitätsdomänen in der Sehrinde dargestellt.
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Bisherige Meinung: Architektur der Sehrinde ist erfahrungsabhängig
Die räumliche Anordnung dieser Domänen in der Sehrinde unterscheidet sich stark von Gehirn zu Gehirn. Bisher nahm man an, dass diese Unterschiede hauptsächlich auf individuell unterschiedlichen visuellen Vorerfahrungen beruhen.

Mit Hilfe einer neuen quantitativen Methode hat jetzt ein deutsch-amerikanisches Forscherteam diese neuronalen Aktivitätsmuster miteinander verglichen. Dabei konnten sie Anzeichen für einen überraschend starken Einfluss genetischer Informationen auf die räumliche Organisation solcher Aktivitätsmuster nachweisen.
Versuche an der primären Sehrinde
Um herauszufinden, ob die individuellen Unterschiede in der Architektur der Großhirnrinde auf Erfahrungsunterschieden oder auf genetischen Faktoren beruhen, hatten die Forscher individuelle Unterschiede in dem bislang am gründlichsten untersuchten Teil des Gehirns, der so genannten primären Sehrinde analysiert.
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Die Methode: Musteranalyse
Um die Anordnung der Aktivitätsdomänen in diesem Hirnareal zwischen verschiedenen Tieren objektiv miteinander vergleichen zu können, entwickelten die Forscher dazu eine neue Musteranalysemethode.

Diese erlaubt es, die komplexe räumliche Anordnung der Aktivitätsdomänen durch wenige Messgrößen zu charakterisieren: Dazu gehören der durchschnittliche Abstand zwischen benachbarten Domänen, ihre typische Form sowie die Gleichförmigkeit der Domänen-Abstände und -Formen innerhalb des Areals.
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Ergebnis: Genetische Einflüsse überwiegen
Während die von den Forschern verwendeten Parameter von Gehirn zu Gehirn oft große Unterschiede aufweisen, waren die Parameterwerte bei Geschwistertieren aus dem gleichen Wurf auffallend ähnlich.

Ebenso traten bei Geschwistern häufig Aktivitätsdomänen mit ähnlicher Form und ähnlicher Domänenabstände innerhalb eines Areals auf.

Mit diesen Messergebnissen wurde erstmals deutlich, dass ein beträchtlicher Anteil der interindividuellen Unterschiede im Layout neuronaler Schaltkreise durch genetische Faktoren bestimmt ist.
Der Blick ins Gehirn
 
Bild: Max-Planck-Institut für Strömungsforschung & Leibniz-Institut für Neurobiologie

Aktivitätsmuster im primären visuellen Kortex von drei Katzen. Bereiche, die aktive Nervenzellen enthalten, sind dunkel markiert. Das linke und das mittlere Muster sind von einem Geschwisterpaar. Das rechte Muster stammt von einer dritten (mit den ersten beiden, nicht verwandten) Katze. Während sich alle Muster in der exakten räumlichen Anordnung der dunkel markierten Aktivitätsdomänen unterscheiden, zeigen das linke und das mittlere Muster eine deutlich größere Ähnlichkeit als das Muster eines nicht verwandten Tieres (rechts).
"Bisherige Hypothese verworfen ..."
Verglichen mit bisherigen Untersuchungen des Einflusses genetischer Faktoren auf den Aufbau des Gehirns stellen diese Beobachtungen für die Forscher eine große Überraschung dar.

"Bisher wurde ein deutlicher genetischer Einfluss nur für grobe Eigenschaften, wie zum Beispiel das Gesamtvolumen der grauen Substanz oder das Volumen ausgewählter Gehirnbereiche, nachgewiesen", meint Max-Planck-Forscher Fred Wolf, der mit Sigrid Löwel aus dem Leibniz-Institut in Magdeburg das interdisziplinäre Forscherteam geleitet hat.

"Hingegen konnte man bisher für spezifischere Eigenschaften des Gehirnaufbaus, wie zum Beispiel das Muster der Windungen der Großhirnrinde, keinen genetischen Einfluss nachweisen. Dies legte die Annahme eines von groben zu feinen Strukturen abnehmenden Einflusses genetischer Information nahe", so Wolf weiter:

"Unsere neuen Ergebnisse belegen, dass genetische Informationen auch die Hirnstrukturen im Millimeterbereich beeinflussen. Damit muss die bisherige Hypothese verworfen werden."
->   Max-Planck-Institut für Strömungsforschung
->   Kavli Institute for Theoretical Physics
->   Leibniz-Institut für Neurobiologie
 
 
 
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01.01.2010