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Wie "Grande" ist noch die Nation?  
  Ist Nationalität eine Erfindung? Wenn ja, wer arbeitet daran und welche Mittel werden dazu eingesetzt? Das sind die Fragen, die am Beispiel Frankreich in der Diplomarbeit des Romanisten Georg Renöckl behandelt werden - science.ORF.at bringt dazu eine Rezension aus dem Uni-Portal "mnemopol".  
Nation nach Art des Hauses
Rezensiert von Thomas Müller, mnemopol.net

"Die 'Nation' und ihre Konstruktion im politischen Diskurs in Frankreich heute" lautet der Titel der Arbeit, und er nimmt damit eine Definition von Nation vorweg, die ihr in weiterer Folge als Grundlage dient.

Im Sinne moderner Positionen, wie etwa von Ruth Wodak oder Rogers Brubaker, ist "Nation" nichts Gott- oder Naturgegebenes oder geschichtlich Gewachsenes, wie es von Nationalisten gern dargestellt wird, sondern ein von Menschen geschaffenes Konstrukt. Genauer gesagt ein Produkt des Diskurses, noch genauer des Nationalismus.
Kultur- und Staats-Nation
Die Kritik am Nationalismus trifft hier jedenfalls beide seiner grundlegenden Ausformungen gleichermaßen: die Kulturnation, die sich in erster Linie über Ethnizität definiert, und die Staatsnation, die sich über ihr Territorium und die Verfassung abgrenzt.

Die Diskurse, die den Nationsbegriff mit Leben füllen sollen, klingen in beiden Fällen nämlich zum Verwechseln ähnlich.
Einheit als Ideal
Das Konzept der Kulturnation verfolgt als Ideal einen ethnisch homogenen Staat. Am wichtigsten Ausdruck dieses "Einheitsvolks", der Sprache, lässt sich allerdings zeigen, wie konstruiert so eine Vorstellung ist.

Die Nationalsprache ist nämlich keineswegs eine wie auch immer geartete Stimme des Volkes, sondern im Regelfall das durch die Arbeit von sprachpflegerischen Institutionen geformte Kommunikationsmedium herrschender Eliten, welches nun durch die Institution Schule zu Allgemeingut werden sollte.

In Frankreich hatten diese Bestrebungen bis zur Dritten Republik (1870 bis 1940) keinen Erfolg und konnte erst mit brachialen Unterfangen der "Instituteurs" etabliert werden.
Territorium und Geschichte
Ähnliches gilt auch für wichtige Elemente der Staatsnation wie Territorium und Geschichte. Das Staatsgebiet ist ebenfalls keineswegs eine vorgegebene, unveränderliche Größe, wie es etwa der Mythos des Hexagon in Frankreich suggeriert.

Die viel beschworene historische Einheit des Staates, die als höherer Wert dargestellt wird, ist eine von Kriegen und Politik geschaffene Ordnung, der der Machtgewinn zu Grunde liegt.
Die Mär von der Nation...
Damit wären wir bei den nationalen Mythen angelangt, die für den Zusammenhalt der Nationalstaaten eine wichtige Rolle spielen und oft als nationale Geschichtsschreibung deklariert werden.

Sie haben mit historisch belegten Tatsachen allerdings oft nur am Rande zu tun, viel mehr hingegen mit der Aufgabe, den Menschen eine Geschichte im literarischen Sinn zu erzählen - bei dem Soziologen Uri Ram heißt es etwa: "Nationalität ist eine Narration, eine Story, die sich Menschen über sich selbst erzählen, um ihrer sozialen Welt Sinn zu verleihen."
...am Beispiel Frankreich
Im Falle Frankreichs wären dies beispielsweise die geschichtliche Kontinuität von den Galliern bis heute, die Einsprachigkeit, oder die zivilisatorische Mission Frankreichs seit der Französischen Revolution, mit deren Hilfe die Menschenrechte als "Made in France" deklariert werden.

Frankreich sollte auch ein Vorbild für andere Staaten werden und die Errungenschaften der Revolution in die Welt hinaus tragen. Als Rechtfertigung für die Kolonisationspolitik des 19. Jahrhunderts eignete sich diese Vorgabe allemal.

Eng damit verbunden ist auch der Mythos der Größe, der "Grandeur", die sich bis heute in der angestrebten Führungsrolle in Europa ausdrückt.
Still alive and kicking
Dass nationale Töne trotz europäischer Integration noch lange nicht der Vergangenheit angehören, zeigt die Analyse einiger Reden Jacques Chiracs und Lionel Jospins der letzten Jahre.

Dabei stellt der Autor bei beiden Politikern im Wesentlichen zwei Hauptstrategien fest: eine konstruktive Strategie, die am traditionellen Idealbild der französischen Nation festhält, und eine Transformationsstrategie, die den notwendigen Veränderungen Rechnung trägt, aber die Möglichkeiten der Erhaltung nationaler Elemente betont.

Die zuvor beschriebenen Formeln und Mythen von nationaler Einheit und historischen Aufgaben können hier wiedergefunden werden. Zum Teil wird auch der seit de Gaulle erhobene Anspruch auf die Führungsrolle Frankreichs in der europäischen Politik offen zum Ausdruck gebracht.
Die Idealisierung der Werte
Dazu bedarf es natürlich auch der Idealisierung der hehren "französischen" Werte wie Verbundenheit zur Heimat und deren Einheit, Respekt vor den Freiheiten und Würde des Menschen (Chirac).

Neben der strategischen und inhaltlichen Ebene wird auch die sprachliche bzw. rhetorische Dimension der Reden untersucht, wie z. B. die Verwendung des Pronomens "Wir". Es schafft eine Vereinnahmung über Interessensgegensätze hinweg, die selbst in die Vergangenheit zurückgreifen kann.

Auch die Verteidigung der französischen Sprache darf natürlich nicht fehlen. Dass, das aber nicht leeres Gerede ist, zeigen die Sprachschutzgesetze gegen Anglizismen von 1994 und der Widerstand gegen die Minderheitensprachverordnung der EU.
Muss das sein?
Der in der Arbeit behandelte Bereich des Nationalismus ist ein relativ schmaler, nämlich der des ¿Nationalismus von oben¿ wie der Historiker Eric Hobsbawm es formulierte.

Aber es darf angenommen werden, dass dieser bei denen die "unten" zuhören zumindest nicht auf Ablehnung stößt. Sonst würde diese Linie wohl nicht so konsequent von beiden großen politischen Lagern in Frankreichs verfolgt werden. Angesichts dieser Tatsache ist Renöckls Skepsis, was die Einigung Europas betrifft, nicht von der Hand zu weisen.

Aber es kann ja noch passieren, dass die Politiker bemerken, dass die "unten" möglicherweise auch ohne Nation glücklich sein können.
->   www.mnemopol.net
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Der Autor
Georg Renöckl studierte von 1995 bis 2002 Französisch, Germanistik und Linguistik an der Universität Wien. Er war bisher vor allem im Bereich Deutsch als Fremdsprache tätig, u. a. in Mexico City und Mykolaiv (Ukraine). Ab Herbst 2002 absolviert er ein Unterrichtspraktikum am Akademischen Gymnasium in Wien.
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01.01.2010