News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Mythos Menschenfresser?  
  Kannibalismus hat es nie gegeben, so die Berliner Archäologin Heidi Peter-Röcher. Aufgeschlagene Hirne, makabre Erzählungen von Reisenden, wirre Schilderungen von Ritualen - sind das alles nur Mythen ohne wissenschaftlichen Beweis?  
Colorado im Herbst 2000: Der Forschergruppe um Richard Marlar von der University of Colorado gelingt in einem prähistorischen Dorf der endgültige Beweis für Kannibalismus. Im Fachmagazin "Nature" veröffentlichen die Wissenschaftler Ergebnisse einer biochemischen Analyse.
Menschliches Eiweiß im Kochtopf
An Kochtopfscherben und in Exkrementen finden sie Spuren des menschlichen Muskeleiweißes Myoglobin. Die Anasazi-Indianer mussten also vor rund 850 Jahren Menschen verzehrt haben.

Das sei nur ein weiterer Fehlschluss in einer langen Irrtumsgeschichte des Kannibalismus, meint Archäologin Heidi Peter-Röcher von der Freien Universität Berlin. "Die Amerikaner beweisen damit gar nichts. Denn es kann sich auch um den Kot eines Kojoten handeln, der das Menschenfleisch gefressen hat."

 


Abbildung aus dem Buch "Mythos Menschenfresser. Ein Blick in die Kochtöpfe der Kannibalen" von Heidi Peter-Röcher, Becksche Reihe, München 1998.
...
Kannibalismus
Der Begriff stammt von Christoph Kolumbus. Als er in die Neue Welt fuhr, stieß er auf bisher unbekannte Inseln, nämlich die Bahamas und die Großen Antillen. Dort berichteten ihm die Einwohner, dass ihre Nachbarn Menschenfresser seien. Kolumbus verstand den Stammesnamen falsch. Aus den Kariben wurden die Caniben und schließlich die Cannibalen, die sehr rasch zu den Namensgebern für die Menschenfresser der Neuzeit wurden. Ab dem 16. Jahrhundert löste der Begriff die seit der Antike verwendete Bezeichnung "Anthropophagie" ab.
...
Indirekte Beweisführung
"Es gibt in der Archäologie keine Merkmale oder Indizien an Knochen, mit denen man Kannibalismus mit Sicherheit belegen kann", so Röcher, die ihre Thesen in dem Buch "Mythos Menschenfresser" veröffentlicht hat. Es gibt aber eine indirekte Beweisführung, hält Harald Wilfing vom Institut für Humanbiologie der Universität Wien entgegen.

"Es gibt Leichenveränderungen wie Schabspuren, aufgeritzte Knochen und schließlich aufgeschlagene Hinterköpfe, die durchaus im Sinne eines kannibalistischen Rituals gedeutet werden können."

Schließlich wären auch Tierknochen aufgeritzt worden, um an das nahrhafte Mark zu gelangen, und Köpfe, um das Gehirn entnehmen zu können. Röcher erklärt diese Spuren mit mehrstufigen Bestattungsritualen, bei denen die Knochen der Toten "entfleischt" werden mussten.
...
Verkaufsargumente
Missionare im Kochtopf, Leichenteile auf dem Bratspieß - an diesen Schilderungen der Reisenden, die den Verlagen als Verkaufsargumente immer Recht kamen, wurden erstmals 1979 Zweifel laut. William Arens versetzte die Wissenschaft mit seinem Werk "The Man-Eating Myth. Anthropology and Anthropophagy" in Aufregung. Von da ab wurden historische Quellen weit kritischer betrachtet.
...
Berichte aus dritter Hand
"Es gibt in keiner einzigen historischen Quelle Augenzeugenberichte über die kannibalistische Handlung selbst. Es handelt sich immer nur um Berichte aus zweiter oder dritter Hand", sagt Röcher vom Institut für Prähistorische Archäologie in Berlin.

Wie viele Legenden diese Reiseberichte enthalten, konnte der Wiener Ethnologe Manfred Kremser bei seinen umfassenden Forschungen erfahren. Er war bei den "gefürchtetsten" Menschenfressern in Zentralafrika, den Niam Niam bzw. Azande. "Als ich die Azande mit den Gerüchten konfrontiert habe, war die Antwort: Nicht wir, sondern die Weißen sind die Menschenfresser!"
Der Artikel im "Nature Magazine" erschien in Volume 407, Number 6.800, Page 74 - 78 (2000).
->   Nature Magazine
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010