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Das Molekül des Vergessens  
  Bereits im 19. Jahrhundert hat der deutsche Psychologe Hermann Ebbinghaus eine Regel formuliert, die jeder Schüler kennt - wenn auch nicht immer befolgt: Lernen ist dann besonders effektiv, wenn in kurzen und verteilten Lerneinheiten gearbeitet wird. Bei lange dauernder geistiger Arbeit verbleiben hingegen viel weniger Inhalte im Gedächtnis. Mehr als hundert Jahre später wissen wir, warum das so ist: Lernen en bloc aktiviert ein Molekül, das unsere Gedächtnisinhalte löscht - das Protein des Vergessens.  
Schweizer Forscher sind einer molekularen Grundlage des Vergessens auf die Schliche gekommen. Mäuse lernen und erinnern sich demnach besser, wenn das körpereigene Protein Phosphatase 1 (PP1) unterdrückt wird.

Das berichten die Wissenschaftler um David Genoux von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich im britischen Fachjournal "Nature".
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"A molecular constraint on learning and memory"
Der Artikel "Protein phosphatase 1 is a molecular constraint on learning and memory" ist erschienen in "Nature", Bd. 418, Seiten 970 - 975, vom 29. August 2002.
->   "Nature"
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Ein neues Zeitalter der Kognitionswissenschaften
Die Erforschung der neuronalen Grundlagen des Lernens ist durch die moderne Biotechnologie in ein neues Zeitalter getreten. Techniken, die es erlauben, spezifische Gene in Mäusen ein- bzw. abzuschalten oder zu modifizieren, haben in den letzten Jahren vermehrt Eingang in die Psychologie und Neurowissenschaften gefunden.
Die molekularen Ursachen des Lernens
In diesem neuen Forschungsfeld ist es erstmals möglich, die molekularen Ursachen des Lernens und des Gedächtnisses zu studieren.

Eine Schweizer Forschungsgruppe um Davis Genoux von der ETH Zürich konnte nun zeigen, dass die Aktivierung eines einzelnen Moleküls - des Proteins PP1 - am Phänomen des Vergessens beteiligt ist.
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Der biotechnologische Trick
Die Schweizer Wissenschaftler untersuchten den Einfluss von PP1 auf den Lernprozess auf denkbar einfache, aber äußerst elegante Art und Weise. Sie stellten Mäuse her, die ein Gen aufweisen, dessen Produkt PP1 automatisch unterdrückt.

Um wiederum dieses "Unterdrückungs-Gen" regulieren zu können, verwendeten sie einen genetischen "Schalter" - das so genannte "reverse Tetrazyklin Transaktivator-System". Mit diesem war es nun möglich, durch Fütterung von Tetrazyklin-hältiger Nahrung die Unterdrückung von PP1 ein- bzw. abzuschalten.
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Das Protein PP1
PP1 gehört zu einem komplexen System, das das Gehirn von unnützen Informationen säubert und damit für neue Kapazitäten sorgt. Zudem könnte das Protein aber auch für altersbedingte Gedächtnisschwäche verantwortlich sein und damit einen Therapieansatz bieten, glauben die Forscher.
Ebbinghaus, molekular begründet
Aus psychologischer Perspektive sind diese Ergebnisse besonders bemerkenswert: Denn sie liefern nun die biochemische Begründung für jene bekannten lernpsychologischen Regel, die bereits in den 1880er Jahren von Hermann Ebbinghaus formuliert worden war.

Die Schweizer Forscher konnten im Tierversuch eine erhöhte PP1-Aktivität bei langen Lerneinheiten nachweisen, während dies bei kurzen Lerneinheiten nicht der Fall war.
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Ebbinghaus' Gesetz des Lernens
Der Begründer der Gedächtnispsychologie Hermann Ebbinghaus publizierte im Jahr 1885 das Buch "Über das Gedächtnis." In dieser Pionierschrift der experimentellen Psychologie konnte er u.a. für das Gedächtnis folgendes Gesetz feststellen: "Die Quotienten aus Behaltenem und Vergessenem verhalten sich etwa umgekehrt wie die Logarithmen der verstrichenen Zeit."

Anschaulich bedeutet das: Bei kurzen und mittelkurzen Lerneinheiten ist der Anteil des Gemerkten sehr hoch. Bei sehr langen Lerneinheiten überwiegt hingegen der Anteil der vergessenen Inhalte. Daher ist es ratsam, Pausen zwischen Lerneinheiten einzulegen.
->   Mehr zu Ebbinghaus' Experimenten
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Experimente an Mäusen
Hemmten Genoux und seine Kollegen das Protein während einer lange dauernden Lektion, konnten sie keinen Unterschied in der Effektivität zwischen den Übungsmethoden mehr feststellen.

Um das Gedächtnis der Mäuse zu testen, nutzten die Forscher die Tatsache, dass die Nager unbekannte Gegenstände begieriger untersuchen als vertraute.
PP1-Blockade verhindert das Vergessen
In einem anderen Versuch trainierten die Wissenschafter die Mäuse darauf, eine untergetauchte Plattform in trübem Wasser zu finden.

Um dann das Erinnerungsvermögen zu testen, entfernten Genoux und seine Kollegen die Plattform. Anfangs suchten die Nager die Plattform noch an der richtigen Stelle, aber mit der Zeit schwand das Erinnerungsvermögen.

Blockierten die Forscher PP1 nach dem Training, konnten sich sowohl junge als auch ältere Versuchstiere länger an den Standort der Plattform erinnern. Damit ist das Protein auch am molekularen Prozess des Vergessens beteiligt, schließen die Wissenschafter.
Mehr zum Thema Erinnerung und Gedächtnis in science.ORF.at
->   Erinnerung: Bunte Bilder "haften" besser
->   Forscher identifizieren "Lern-Protein"
 
 
 
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01.01.2010