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Ground Zero, ein globaler Erinnerungsort  
  Die Attacke auf das World Trade Center wurde als "erster Krieg des 21. Jahrhunderts" bezeichnet. Zugleich war 9/11 aber auch ein Medienereignis mit ganz neuen Dimensionen. Bei dem Symposion "Medien und die Macht der Kriegs- und Terror-News", das am Montag im RadioKulturhaus stattfand, stellte der Politikwissenschaftler Claus Leggewie die Frage, wie man sich künftig individuell und kollektiv daran erinnern wird. science.ORF.at präsentiert seine Überlegungen in Auszügen.  
"Nine eleven" als transnationales Fernsehereignis
Von Claus Leggewie, Giessen

Der 11. September 2001 war der Tag, an dem sich die geliebte Person binnen kurzem in Asche verwandelte, die Hinterbliebenen konnten nicht einmal einen erkalteten Leichnam berühren. Was sie, genau wie der Rest der Welt, behalten haben, ist eine unendliche Schleife von TV-Bildern, die nun - anniversaire oblige - wieder und wieder gezeigt werden.

Sie sollen den Tag bezeugen, nach dem die Welt angeblich nicht mehr so ist, wie sie einmal war, sie legen dar, wie die erste "Schlacht" und zugleich Niederlage im "ersten Krieg des 21. Jahrhunderts" (George W. Bush) kommemoriert werden soll.
Vom Einsturz in Echtzeit zum "Doku-Drama"
Man denkt sogleich an die Kriegerdenkmäler und Heldengedenkstätten auf den europäischen Schlachtfeldern, aber memotechnisch sind wir davon Lichtjahre entfernt.

Das Fernsehen, das den fürchterlichen Hieb in das World Trade Center und den Einsturz der Zwillingstürme weltweit und in Echtzeit übertragen hat, erweist sich als das bekannte Wiederholungsmedium: Das ungeplante, durch Al-Qaedas kühl kalkulierten Zufall eingespielte transnationale Medien-Event wird ein Jahr später auf allen Kanälen als "Doku-Drama" ausgeschlachtet bis zum geht nicht mehr.
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Symposion: "Medien und die Macht der Kriegs- und Terror-News"
Anlässlich des ersten Jahrestags der Terroranschläge vom 11. September findet in Wien das Symposion "Medien und die Macht der Kriegs- und Terror-News" statt.
Veranstalter: Demokratiezentrum Wien, Wissenschaftsredaktion der ORF-Radios und DER STANDARD in Zusammenarbeit mit dem Verein für Geschichte und Gesellschaft im Rahmen der Initiative Dialog.Diskussion.Demokratie.
Zeit: 9. September 2002, Beginn 14.00 Uhr, Eintritt frei
Ort: RadioKulturhaus, Argentinierstraße 30a, 1040 Wien
Simultanübersetzung Deutsch/Englisch
->   Programm des Symposions
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Amerikanisches und globales Gedenken
Die Filmindustrie hat zum Gedenken vor allem Vorproduziertes beigetragen, das nach einer Schamfrist freigegeben wurde (Collateral Damage, Bad Company), oder sie gibt eher Lachhaftes zum Besten (The Sum of all fears).

Während ausgerechnet diese amerikanische Institution unter der Wucht der Bilder verstummt zu sein scheint, stellt der in Venedig uraufgeführte, von elf internationalen Regisseuren zusammengestellte Episodenfilm (11/09/01) den Terroranschlag in den Rahmen einer durch allgegenwärtige Gewalt aus den Fugen geratenen Welt.

Damit setzt man, wie Skeptiker einwenden, Unvergleichliches gleich, doch zugleich bezeugt der Film, dass der 11. September ein Gegenstand globaler Erinnerung geworden ist, die Amerika nicht allein ausrichtet und seiner politischen Führung gewiss nicht gefallen wird, weil die USA hier nicht nur als Opfer, sondern auch als Täter gezeigt werden.
Noch kein Roman zum "11. September"
Wie erinnert sich aber Amerika an und für sich an das Trauma, dass zum ersten Mal seit dem Angriff der Briten auf das Weiße Haus (1813) und Pearl Harbour wieder heimatlicher Boden angegriffen wurde? "Den" Roman zum elften September hat noch kein Schriftsteller vorgelegt; die gleichwohl überquellenden Büchertische beherrschen Dokumentationen, Ratgeber und eine Reihe patriotischer Erbauungsliteratur.
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Intime Formen der Kommemoration
Am besten gelungen sind die "intimen" Formen der Kommemoration wie die in der New York Times erschienenen Nachrufe auf einzelne Opfer des Terroranschlags, und zu erwähnen sind die improvisierten Fotoausstellungen in New Yorker Galerien, welche die ungleich durchdachtere Qualität des unbewegten Bildes bezeugen und der guten alten Fotographie späte Genugtuung beschert haben.
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Visuelle und akustische Medien
In Europa, wo man unablässig von "Trauerarbeit" redet, sich aber offenbar nur schwer in die Lage der Hinterbliebenen ein paar Tausend Meilen entfernt versetzen kann, kanzelt man solch amerikanisches Ritual gern ab: Oh Gott, schon wieder eine kitschige Fire Fighter-Story.

Die New Yorker Feuerwehr wird natürlich auch von Bruce Springsteen gewürdigt; er lebt in dem County von New Jersey, das die meisten Opfer des Anschlags zu beklagen hat, wie überhaupt das Gros der Opfer nicht Angehörige der Oberschicht aus Manhattan waren, sondern kleine Angestellte und einfache Leute. Springsteen besingt sie, wie ein Richard Ford von ihnen erzählt und man sich ihrer jeden September aus Anlaß des Labor Day wieder erinnert.

Aber nicht der amerikanischen Arbeiterklasse will Springsteen ein Denkmal setzen, auch rechnet er nicht mit Corporate America ab, das gerade so viele belogen und betrogen hat. Er will "Menschen von nebenan" eine Stimme geben, die einen unerklärlichen Verlust erlitten haben.
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Leid in Momentaufnahmen individualisiert
Gefühle "unverstellt" und "natürlich" zur Sprache zu bringen, gelingt auch Springsteen selten. Gleichwohl hat sich seine musikalische Miniatur anderen Versuchen überlegen erwiesen, der Katastrophe auf massenmediale und massendemokratische Weise beizukommen. In solchen Momentaufnahmen wird Leid individualisiert und erlaubt gerade damit kollektive Trauer. Ähnlich wie Springsteen und die Nachrufschreiber der Times ist Sean Penn als einziger amerikanischer Beiträger zu 11/09/01 verfahren. Er zeigt einen einsamen alten Mann, der im Schatten der Zwillingstürme neben dem Sommerkleid seiner verstorbenen Frau lebt und imaginäre Dialoge mit ihr führt.
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Virtuelle und wirkliche Erinnerungsorte
The Rising ist somit ein virtueller Erinnerungsort, wie die Historiker heute auch nicht lokalisierbare Räume des Gedenkens und Stätten kollektiver Erinnerung nennen. Man denkt hier vor allem an die Bastille oder Buchenwald und generell an Veranstaltungen der Hochkultur, aber in der populären Kultur Amerikas können Rocksongs leicht eine solche Bedeutung gewinnen.

Der Versuch, Born in the USA geschichtspolitisch seinerzeit für die Überwindung des Vietnam-Debakels zu instrumentalisieren, ist gescheitert, aber mit The Rising kommt das Trauma des 11. September immerhin zur Sprache. Es ist kein Zufall, dass das leise akustische Medium optischer Marktschreierei überlegen und das Anhören weniger affirmativ wirkt als das bloße Zuschauen.
Symbole und Gedenkstätten
Welches Symbol würde wirklich passen? Als Totenmal und Heldengedenkstätte bliebe die schlichte Bronzeskulptur des unbekannten Feuerwehrmannes, aber selbst eine solche Heldenstatue irritiert heute, da Erinnerungsorte nicht mehr an triumphale Großtaten einer Nation, sondern an globale Traumata einer "unbewältigten Vergangenheit" gemahnen.

Und auch die materiale Gedenkstätte, die am Ground Zero irgendwann, vermutlich nach langen Auseinandersetzungen, entstehen wird, dürfte stets überblendet bleiben durch die nervtötende Bildstrecke, die schon am Tag danach eine Ikone war, wie der Atompilz über dem Bikini Atoll und die Szenen aus befreiten Konzentrations- und Vernichtungslagern es erst nach Jahrzehnten wurden.
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Claus LEGGEWIE ist seit 1989 Professor für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Giessen. Seit 2001 Direktor des Zentrums für Medien und Interaktivität der Justus-Liebig-Universität Giessen. Gastprofessuren an der Université Paris-Nanterre und am Institut für die Wissenschaft vom Menschen, Wien. 1995 bis 1997 erster Inhaber des Max Weber-Chair an der New York University.
->   Homepage von Claus Leggewie
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->   Radio Österreich 1
->   derStandard.at
Mehr über den Jahrestag der Anschläge vom 9. 11. in science.ORF.at:
->   Weltweiter Boom: Biometrie gegen Terrorismus
->   11.9.: Psychische Folgen, Lebensstiländerungen
->   Der 11. September überschattet Amerikas Forschung
 
 
 
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01.01.2010