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Neidhart von Reuental: Bunter Hund des Mittelalters  
  Jede Zeit hat ihre musikalischen Revoluzzer: Was der Skandal-Entertainer Robbie Williams mit seinen bisweilen anzüglichen Videoclips für die Gegenwart darstellt, war Neidhart von Reuental (um 1180-1240) für das 13. Jahrhundert. Der Sänger und Liederdichter galt als der erfolgreichste Musiker des Mittelalters im deutschen Sprachraum. Der "Popstar" des Minnegesangs erfreute sich über seinen Tod hinaus mehr als 400 Jahre lang durchgehend größter Popularität.  
Ein Forschungsteam vom Salzburger Institut für Germanistik hat nun erstmals - gefördert vom Wissenschaftsfonds (FWF) - eine vollständige Edition aller Neidhart-Texte und -Melodien erstellt, die jetzt in dreibändiger Buchform erscheint.
Ein "quakender Forsch" ...

Der Holzschnitt illustriert den Inhalt von Neidharts zum Teil freizügigen Liedtexten.
Walther von der Vogelweide war ihm den Erfolg neidig und schimpfte Neidhart von Reuental in einem seiner Texte "einen quakenden Frosch, der mit seinem lauten Geschrei der Nachtigall (damit meinte der Autor sich selbst) die Lust zum Singen nimmt".

Die Missgunst war kein Wunder, war Neidhart doch nicht nur ein erfolgreicher Musiker, sondern widersetzte sich auch allen Regeln des klassischen Minnegesangs, indem er mit schwungvollen Melodien und freizügigen Texten das damalige Wertesystem unverblümt angriff.

Die unkonventionellen Lieder beschäftigen Germanisten und Musikwissenschaftler bis heute. Einziger Wermutstropfen: Bislang gab es keine vollständige Werkausgabe von Neidhart.
Erste vollständige Edition aller Neidhart-Texte und Melodien
Ein Forschungsteam vom Salzburger Institut für Germanistik hat nun unter der Leitung des Literaturwissenschaftlers Ulrich Müller die Lücke in der Erforschung des mittelhochdeutschen Minnegesangs gefüllt und eine erstmals vollständige Edition aller Texte und Melodien erstellt.
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Erste Edition: Nur 40 Prozent des Liedgutes
"Ausgangspunkt unserer Forschungsarbeit war die von Moriz Haupt im Jahr 1858 publizierte Neidhart-Edition, die 1923 in einer 2. Auflage von Edmund Wießner bearbeitet wurde", erläutert Müller. "Es ist die bisher einzige Ausgabe über den Lieddichter mit wissenschaftlichem Anspruch und gilt als Markstein der Neidhart-Philologie."

Diese erste Edition bedurfte aber nach neuem wissenschaftlichen Stand längst einer Erneuerung - nicht nur wegen der heute umstrittenen Editionsmethode, sondern vor allem wegen der großen Lückenhaftigkeit und Unvollständigkeit: "Die Haupt-Wießner-Ausgabe erfasste lediglich um die 40 Prozent des unter Neidharts Namen überlieferten Liedguts", so der Wissenschaftler. "Die anderen 60 Prozent sind bisher nur unzureichend ediert worden. Außerdem existierte bislang keine Ausgabe, die alle Neidhart-Texte zusammen mit den Melodien enthält."
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Unterhaltung mit "allen Mitteln"

Neidhart von Reuental (Codex Manesse)
Neidhart von Reuental galt als "bunter Hund" seiner Zeit: Mit seinen Texten und Liedern sorgte der mittelalterliche Wiener Lieddichter für Aufregung und Aufsehen. Nicht sittliche Erbauung und Erhöhung waren sein Ziel, er wollte schlichtweg einfach unterhalten.

Dazu war dem Lieddichter jedes Mittel recht: Er jonglierte mit anzüglichen Bemerkungen, erzählte Alltagssituationen und scheute sich nicht, die Namen seiner Zeitgenossen in die Werke einzubauen.

Seine Texte sind "naiv", bewusst wörtlich und für jeden verständlich. Neidhart widersetzte sich damit dem subtilen Tenor des hohen Minnegesangs und zeigte eine verkehrte Welt: Nicht der Ritter besingt die sozial höher stehen Herrin, sondern das Bauernmädchen verführt den Edelmann.
Wien: "Neidhartfresken" aus dem 14. Jahrhundert

Das "Neidhartfresko" im Haus Tuchlauben in Wien stammt aus dem 14. Jahrhundert und zählt zu den ältesten Wandmalereien der Stadt. Die Fresken zeigen Szenen aus Leben und Dichtung des Wiener Minnesängers.
Die Ergebnisse der Forschungsarbeit werden demnächst in dreibändiger Buchform erscheinen. Leider schon vergriffen ist eine vom Forschungsteam veröffentlichte CD mit modern interpretierten Liedern des mittelalterlichen Sängers.

Wer dennoch in den Genuss dieses Ohrenschmauses kommen möchte, soll sich ins Haus Tuchlauben 19 im ersten Wiener Bezirk begeben: Dort bekommt man nicht nur einen Eindruck der Liederkunst Neidharts, sondern auch einen Blick auf die Neidhartfresken aus dem 14. Jahrhundert, die ältesten profanen Wandmalereien Wiens.

Eva-Maria Gruber, Universum Magazin
->   Institut für Germanistik, Uni Salzburg
->   Wissenschaftsfonds (FWF)
->   Universum Magazin
 
 
 
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01.01.2010