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Der Westen ist überall  
  Der Einfluss des Westens macht auch vor entlegenen Dörfern und vorindustriellen Stammes-Gesellschaften nicht halt: Der Stamm der Baruya wurde vor 50 Jahren im Hochland Papua-Neuguineas "entdeckt", nach drei Jahrzehnten hatten Christentum, westliche Werte und Marktwirtschaft das Leben der Baruya umgekrempelt.  
Vor 50 Jahren ins westliche Bewusstsein
Der französische Anthropologe Maurice Godelier hat insgesamt sechs Jahre bei den Baruyas gelebt und die Verwestlichung miterlebt.

Für die westliche Welt beginnt die Geschichte der Baruya vor 50 Jahren: Erzählungen über einen Stamm, der Salz produziert, lockten einen australischen Offizier 1951 nach Neuguinea. Im Hochland entdeckte er sie schließlich: die Baruya. 1800 Stammesangehörige lebten in einem Dutzend kleiner Dörfer.
Alltag der Baruya
Sie betrieben Brandrodung, um Felder bestellen zu können, und sie bewässerten Terrassen. Frauen waren den Männern untergeordnet. Die Werkzeuge der Baruya waren aus Stein, Knochen und Holz. Um an Steinklingen oder Palmholz zu gelangen, tauschten sie diese bei anderen Stämmen gegen Salz ein.

Das Salz wurde aus Pflanzenasche gewonnen.
Der Stamm lebte vom Landbau und der Jagd, sagt der französische Anthropologe Maurice Godelier, und sie waren Krieger.

"In dieser Gegend sind die Stämme ständig im Krieg miteinander. Sie verteidigen ihre Grenzen mit Waffen. Der Krieg ist aber auch dazu da, die Männlichkeit zu demonstrieren, nicht nur um Land zu erobern oder zu verteidigen. Der Krieg ist auch ein Aspekt des Unterschieds zwischen Männern und Frauen, ein Aspekt der männlichen Vorherrschaft", erklärt der Anthropologe Maurice Godelier
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Zur Person: Maurice Godelier
Maurice Godelier ist Professor für Wirtschaftsethnologie. Er war Direktor der Abteilung für Human- und Sozialwissenschaften am Centre National des Recherches Scientifiques in Paris. Er hat sich auf die Gesellschaften in Ozeanien spezialisiert. Seine Feldstudien brachten ihn zwischen 1967 und 1988 wiederholt zu den Baruya. Seine Erfahrungen hat Godelier in Dokumentarfilme und populärwissenschaftliche Bücher gefasst: z.B. über die männliche Vorherrschaft bei den Baruya oder über die komplexe Kunst des Schenkens.
->   CNRS - Centre National des Recherches Scientifiques
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Die vier Schritte der Verwestlichung: 1. Befriedung
Maurice Godelier kam 1967 zu den Baruya, er lebte zuerst drei Jahre dort. In den folgenden 20 Jahren kehrte er immer wieder zurück. Er hat die Veränderungen des Stammes durch den Kontakt mit der westlichen Welt miterlebt.

Als Synonym für Einflüsse aus Australien, Europa, Kanada oder Amerika spricht Godelier einfach von Europäern:
"Zuallererst schaffen die Europäer Frieden in einem Stammesgebiet. Das heißt: Krieger hören auf, Krieger zu sein. Männer denken fast wie Frauen. Der Krieg ist ja Sache der Männer."
2. Missionierung
Neben Soldaten und Vertretern der Kolonialstaaten kamen auch Missionare zu den Baruya. Deutsche, amerikanische und australische Missionare auf Seiten der Protestanten; kanadische, französische und auch österreichische Missionare auf Seiten der Katholiken, so der französische Anthropologe, sowie Dutzende kleine amerikanische protestantische Sekten.

"Alle möglichen Menschen sagen den Stammesangehörigen, dass ihre Religion nicht gut ist, dass sie sich Gott zuwenden müssen und dass Christus auf die Erde gekommen ist, um die Menschheit zu retten", sagt Godelier.
3. Neues Wirtschaftssystem
Drittens, erklärt Godelier, wurde das Wirtschaftssystem der Baruya geändert:
"Früher haben sie Salz getauscht. Jetzt sind es Dollar oder Pfund. Tausch wird durch das Geld immer mehr zu Handel, zu Handel mit Geld. Um an Geld zu kommen, muss man Produkte verkaufen oder arbeiten gehen. Das heißt, die Menschen müssen an der Küste auf Plantagen oder in der Stadt arbeiten, um zu Geld zu kommen. Es werden auch Kaffee und andere Pflanzen angebaut, die am Markt verkauft werden können. Man verkauft also entweder ein Produkt oder seine Arbeitskraft. Damit hat man eine freie Marktwirtschaft.¿

Die Baruya produzierten nun Waren, die sie selbst nicht brauchten, und sie bekamen dafür Geld, das von anderen kontrolliert wurde (die Währung Papua-Neuguineas der Kina stützte sich gewissermaßen auf den US-Dollar, sagt Godelier). Da die Plantagen an der Küste waren, lernten die Baruya das Meer kennen. Bis dahin hatten sie nicht von seiner Existenz gewusst.
4. Baruya als Bürger Papua-Neuguineas
Bis 1951 waren die Baruya auf ihrem Territorium souverän. Die politische und rituelle Macht lag in den Händen einiger Clans. Neun Jahre später wurden sie von der australischen Kolonialverwaltung unterworfen.

Schließlich wurde Papua-Neuguinea unabhängig und die Baruya wurden zu Bürgern dieses neuen Staates, erläutert Maurice Godelier:
"Die vierte Intervention ist die Verwaltung. Und nachdem Neuguinea 1975 unabhängig geworden ist, wird daraus eine gewisse Demokratie mit Wahlen und Abgeordneten. Man darf sich das nicht wie eine europäische Demokratie vorstellen. Man hat praktisch eine Stammesorganisation des Staates, die mit der Unabhängigkeit entsteht."
Veränderte Rollen der Geschlechter
Die Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern bei den Baruya hat sich durch den Einfluss des Westens verändert. Früher waren die Frauen den Männern laut Godelier klar untergeordnet.

"Wenn ein Mann einer Frau oder einer Gruppe von Frauen begegnete oder sie überholte, blieben diese sofort stehen, wandten den Kopf ab und zogen, wenn sie eine Hand frei hatten, lebhaft einen Zipfel ihres Rindencapes vor ihr Gesicht. Der Mann ging vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und sie setzen ihren Weg fort."

Zwanzig Jahre später blieben die Frauen zwar immer noch oft stehen, um die Männer vorbeizulassen, sagt Godelier, aber nur mehr wenige verhüllten ihr Gesicht.

Neu war auch der rechtliche Status der Frau: Körperliche Gewalt des Ehemanns an seiner Frau wurde nun per Gesetz bestraft. Frauen sahen sich somit ermutigt, ihrem Mann öfter und offener Widerstand zu leisten.
Wege der Anthropologie hinterfragen
Als Anthropologe versucht Godlier, die Zusammenhänge in einer beobachteten Gruppe zu verstehen. Diese Arbeit, sagt er, haben die Baruya mit ihm gemacht, weil sie ihm geholfen haben, ihm Dinge erklärt und gezeigt haben. Dafür hat er ihnen auch etwas zurückgeben, sagt er:

"Meine Generation von Anthropologen hat eine Art demokratischen Pakt geschlossen: ich habe z. B. von allen meinen Filmen eine Kopie den Baruya gegeben. Außerdem habe die Baruya-Anführer, der Kulturminister von Papua-Neuguinea, australische Anthropologen und ich einen Vertrag unterzeichnet: demnach dürfen Filme über Initiationsriten den Europäern gezeigt werden, sogar weißen Frauen! Aber in Neuguinea dürfen die Filme nur Lehrer, Minister und Pfarrer sehen, also nur Männer und nur wichtige Männer. Anschließend habe ich zwei Personen beibringen lassen, wie man Filme dreht. Sie konnten also ihre eigene Kultur auf Super-8 festhalten."
Baruya 20 Jahre später
Nach 20 - 30 Jahren waren die Auswirkungen des westlichen Einflusses laut Godelier enorm. Es wurden neue Bedürfnisse geschaffen: Radio, T-Shirts, Sonnenbrillen, Geländewagen. Dazu müssen Straßen gebaut werden.

Aus den Kriegern sind Arbeiter geworden, die Dörfer aus dem Hochland wurden zum Teil ins Tal gesiedelt, aus den Angehörigen eines souveränen Stammes sind Bürger des Staates Papua Neuguinea geworden.
Lage ist "chaotisch, anarchistisch"
Heute sei die Situation chaotisch, sagt Godelier: die Stammesfehden haben sich ausgedehnt, die Wirtschaft sei anarchistisch und chaotisch.

"Die ganze Gesellschaft ist in Bewegung. Die junge Generation unterscheidet sich stark von der älteren. Die Jungen sind Christen geworden, die Alten nicht. Die Frauen profitieren von dieser Veränderung eher als die Männer: Die Europäer haben Druck gemacht, dass die Frauen vor den Männern geschützt werden. Außerdem sind die Frauen die ersten Christen gewesen, sie haben schneller als die männlichen Baruya den christlichen Glauben angenommen. Denn auch im christlichen Glauben kennt man Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern: vor Gott sind alle gleich, und so weiter...".

Barbara Daser, Ö1 Dimensionen
Literatur zu diesem Thema
Godelier, Maurice (1987): Die Produktion der großen Männer. Macht und männliche Vorherrschaft bei den Baruya in Neuguinea. Campus Verlag.

Godelier, Maurice (1999): Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte. C.H. Beck Verlag.

Godelier, Maurice (1991): Wird der Westen das universelle Modell der Menschheit? Die vorindustriellen Gesellschaften zwischen Veränderung und Auflösung. Picus Verlag.
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Radiotipp
"Der Westen ist überall: Sonnenbrille, Sparbuch und Erstkommunion halten Einzug im Hochland Papua-Neuguineas."
19.9.2002 19:05 Radio "Österreich 1".
->   Ö1
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01.01.2010