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Interkulturelle sprachliche Bildung
Von Ingrid Gogolin, Universität Hamburg
 
  Das Thema Zuwanderung hat in allen europäischen Ländern Kontroversen entfacht. Über einen Punkt aber besteht offenbar Einigkeit: Kinder, die im Einwanderungsland leben, sollten unabhängig von ihrer staatlichen Herkunft Zugang zum Bildungssystem haben.  
Demokratische Bildungssysteme
Schon seit langem haben sich die bildungspolitisch Zuständigen auf europäischer überstaatlicher Ebene ebenso wie in den einzelnen Einwanderungsländern darüber verständigt, daß hiermit nicht nur die rein formale Aufnahme in Schulen gemeint ist.

Wie dies demokratischen Bildungssystemen gemäß ist, soll vielmehr auch die Aussicht darauf eingeschlossen sein, eine erfolgreiche Schulkarriere in dem Land, in dem ein Kind lebt, zu absolvieren.
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Versprechen nicht eingelöst
Wir wissen aber, daß die europäischen Schulsysteme dieses Versprechen nach wie vor nicht einlösen. Die Daten gleichen sich überall: zugewanderte Kinder haben schlechtere Chancen, die am höchsten angesehenen Bildungsabschlüsse zu erreichen, als nichtgewanderte einheimische Kinder.
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Für dieses Resultat der Schlechterstellung beim Bildungserfolg sind nach allem, was wir wissen, auch Merkmale der Zugewanderten selbst ¿ nicht zuletzt ihre soziale und ökonomische Lage ¿ mitverantwortlich. Einen großen Teil der Verantwortung aber trägt zweifellos das Schulsystem. Zu den aus meiner Sicht herausragenden Problemen gehört die übliche sprachliche Gestaltung des Bildungsprozesses.
Aufgaben der Schule für die Sprachbildung
Nach den in den meisten europäischen Staaten üblichen Traditionen ist schulische Bildung durchgängig einsprachig ¿ in der Sprache des Staates ¿ gestaltet; in Deutschland ist ebenso wie hier in Österreich das Deutsche die Sprache der Bildung.

Eine Ausnahme hiervon ist der relativ unbedeutende Bereich des schulischen Fremdsprachenunterrichts. Die deutsche Sprache durchdringt einen Bildungsgang in unseren beiden Ländern vollständig: alle Unterrichtsfächer und -Gegenstände werden deutsch vermittelt; Schülerinnen und Schüler haben ihre Leistungen in deutsch zu erbringen; die Beurteilung von Schülerleistungen schließt immer eine Beurteilung dessen ein, wie ein Mensch imstande ist, Gelerntes im Deutschen auszudrücken. Folgerichtig ist der Zugang zur deutschen Sprache der Dreh- und Angelpunkt einer Schülerkarriere in Deutschland oder Österreich.
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Bildungserfolg?
Nach allem, was wir wissen, gelingt es den Schulen hier wie dort nach mehr als 40 Jahren der Einwanderung immer noch nicht, Kinder, die nicht einsprachig in Deutsch aufwachsen, an diese Sprache so heranzuführen, daß ihre Chance auf besten Bildungserfolg genauso hoch ist wie die von Kindern, die einsprachig mit Deutsch aufwachsen.
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Defizite des Unterrichts
Die Schule besitzt die Zuständigkeit dafür, Kindern den Zugang zur Schrift zu vermitteln; in diesem Bereich der Förderung sprachlicher Kompetenzen besitzt sie das Monopol.

Verschiedene Untersuchungen deuten darauf, daß hier ein massives Defizit des Unterrichts mit zwei- oder mehrsprachigen Kindern vorliegt.
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Keine anderen Lernorte
Kinder aus gehobener Sozial- und Bildungsschicht haben die Chance, die sprachlichen Anforderungen, um die es in der schulischen Fach- oder Wissenschaftssprache geht, auch zu Hause zu lernen oder zu üben; dies gilt natürlich prinzipiell auch für mehrsprachig aufwachsende Kinder. Alle anderen Kinder aber haben keinen anderen Lernort dafür als die Schule.
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Die Schule ist der Mehrsprachigkeit nicht gewachsen
Testergebnisse wie die in Hamburg erzielten machen es wahrscheinlich ¿ und Ergebnisse unserer eigenen Unterrichtsforschung bestätigen diesen Verdacht ¿, daß die Schule in dieser Hinsicht bislang systematisch versagt hat; anders gesagt: sie ist der Mehrsprachigkeit in der Schülerschaft nicht gewachsen.

Dies ist nicht so sehr der einzelnen Lehrkraft oder Einzelschule als Schuld zuzurechnen. Es ist vielmehr eine Folge der historischen Traditionen, in denen unser Schulsystem steht (und auf die ich an dieser Stelle aus Zeitgründen nicht genauer eingehen kann). Infolge dieser Traditionen wird im gesamten schulischen Bildungsprozeß prinzipiell davon ausgegangen, daß alle Kinder das Deutsche schon in die Schule mitbringen.

Daher werden die sprachlichen Mittel, die benötigt werden, um einen Gegenstand zu erlernen, nicht grundsätzlich gelehrt, sondern als weitgehend vorhanden vorausgesetzt.
Was nicht vorauszusetzen ist
Ein erstes Fazit an dieser Stelle: Es spricht also nicht unbedingt etwas dagegen, daß in Deutschland oder Österreich Bildungsprozesse weitgehend in der deutschen Sprache gestaltet sind.

Aber in der durch Zuwanderung geprägten sprachlich kulturellen Lage ist es gänzlich unangemessen, bei der Gestaltung des Bildungsprozesses weiterhin vorauszusetzen, daß die Schülerschaft prinzipiell die sprachlichen Kompetenzen mitbringt, wie sie die Schule verlangt.
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Anforderungen sind zu vermitteln
Vielmehr müßten Lehrprozesse so gestaltet sein, daß die sprachlichen Anforderungen, die sie setzen, sämtlich mitvermittelt werden ¿ und zwar in einer Weise, die berücksichtigt, daß die lernenden Kinder viele verschiedene Sprachen und höchst unterschiedliche Spracherfahrungen in den Unterricht mitbringen.
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Entfaltung der Potentiale
Unstreitig ist darüber hinaus, daß es der schulischen Mitwirkung bedarf, um aus der von der Familie mitgebrachten Zweisprachigkeit das beste zu machen: Denn nur wenn zweisprachig auf-wach-sende Menschen eine Chance erhalten, in beiden Sprachen auch schriftkundig zu werden, können sie das sprachliche Potential voll entfalten, das ihnen gleichsam in die Wiege gelegt wurde.

Dass die Schule den Zugang zur Schrift in beiden Sprachen ermöglicht ist umso wichtiger für Kinder, die nicht in sehr bildungsnahen und wohlhabenden Familien aufwachsen ¿ für die also die Eltern nicht ohne weiteres ausgleichen oder gar ersetzen können, was die Schule versäumt.
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Der Sinn und Nutzen einer schulischen Förderung beider Sprachen aus familial angeeigneter Zweisprachigkeit steht also nach dem Stand der einschlägigen Forschung außer Zwei-fel. Aus dieser Sicht stellt sich auch die Frage gar nicht, ob die Kinder ¿ wie vielfach gefordert wird ¿ ¿zunächst einmal richtig Deutsch¿ lernen sollten.

Bei Kindern, die in zwei Sprachen aufwachsen und leben, ist es un-ver-meidlich, daß beide Sprachen zugleich ihre Sprachentwicklung und die Sprachproduktion beeinflussen. Dies kann durch behördliche Anordnung nicht abgeschafft werden.
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Förderung beider Sprachen
Die Förderung beider Sprachen eines in zwei Sprachen lebenden Kindes wird sich also nach allem, was man seriös darüber wissen kann, ohne Zweifel positiv auf die Entwicklung seiner Zweisprachigkeit auswirken.

An der Sache vorbei zielt die hieraus abgeleitete Forderung, daß der Sinn und Nutzen eines Unterrichts der Familiensprache sich unmittelbar wiedererkennen lassen müsse in einer beschleunigten Aneignung der Zweit-prache oder in der Verbesserung der Deutschkenntnisse.

Die Förderung von Zweisprachigkeit ist nicht gleichzusetzen mit Förderung einer Sprache durch den Unterricht einer anderen. Wer möchte, daß Kinder besser Deutsch lernen, muß an der Verbesserung ihres deutschen Unterrichts arbeiten ¿ und zwar, wie ich eingangs dargelegt habe, nicht nur im Sprachunterricht, sondern vor allem im Fachunterricht.

Die Abschaffung des muttersprachlichen Unterrichts jedenfalls oder ein Mehr von demselben im hergebrachten Deutschunterricht wird, das ist ohne Prophetie vorhersagbar, die Bildungschancen für Kinder, die in zwei Sprachen leben, um kein Jota verbessern.
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Porf. Dr. Ingrid Gogolin unterrichtet am Institut für International und Interkulturell Vergleichende Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.

Ihr Referat über "Interkulturelle sprachliche Bildung", das hier in Auszügen zu lesen ist, ist ein Beitrag zum Internationalen Symposium "Bilingualität und Schule" des Stadtschulrats für Wien, das am 19. und 20. Februar im Adolf-Czettel-Bildungszentrum, Wien stattfindet.
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->   Institut für Erziehungswissenschaft, Hamburg
 
 
 
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01.01.2010