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Pränatale Diagnostik - ein Problem der Beratung  
  Pränatale Diagnostik vermittelt nicht nur die "objektive Information". Wenn der Befund lautet, dass ein Kind behindert auf die Welt kommen wird, sind Mütter bzw. Eltern vor schwerwiegende Entscheidungen gestellt. Dabei kommen auch gesellschaftliche Werturteile über Behinderungen zum Tragen. Umso wichtiger wäre es, die individuelle Situation der Eltern, die mit dem Phänomen "Behinderung" konfrontiert werden, in der Beratung zu berücksichtigen, meinen Andrea Strachota und Maria Gamperl aus der Sicht der Heilpädagogik in ihrem Gastbeitrag anlässlich des "Diskurstages Gendiagnostik".  
Beratung (im Umfeld von pränataler Diagnostik) und Heilpädagogik
Von Andrea Strachota und Martina Gamperl

In der einschlägigen Literatur ist immer wieder zu lesen, daß angesichts eines positiven Befundes die Entscheidung der Mütter bzw. Eltern für oder gegen die Geburt ihres behinderten Kindes möglichst unbeeinflußt, d.h. frei und ganz autonom zu treffen sei.

Mit der Stilisierung des Mythos einer freien, individuellen Entscheidung wird der Umstand erfolgreich verschleiert, daß Menschen eine Entscheidung zu treffen und verantworten haben, die auf gesellschaftlicher Ebene längst getroffen wurde, aber nicht verantwortet wird: Behinderung ist per se ein Übel und daher zu verhindern.
Im Entscheidungsprozeß allein gelassen
Dieser Mythos führt dazu, daß der individuelle Mensch in seinem Entscheidungsprozeß weitgehend allein gelassen wird. Von einer umfassenden Beratung rund um pränatale Diagnostik kann nicht die Rede sein - es hat allen Anschein, daß nicht einmal das Verhältnis von pränataldiagnostischen Eingriffen und genetischer Beratung auch nur ein annähernd ausgewogenes ist.
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Begleitung und Unterstützung
Selbst wenn man aber die Forderung umsetzen könnte, die Durchführung pränataldiagnostischer Eingriffe an eine verpflichtende genetische Beratung zu binden, wäre damit eine Begleitung und Unterstützung der betroffenen Frauen bzw. Paare im Entscheidungsprozeß keineswegs gewährleistet: Sofern sich genetische Beratung als eine non-direktive versteht, sieht das Zur-Kenntnis-Bringen genetischer Datenmengen diese naturgemäß auch gar nicht vor.
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Psychisch belastende Situation
Die Notwendigkeit einer Begleitung und Unterstützung ergibt sich daraus, daß sich Frauen bzw. Paare auf Grund eines positiven Befundes in einer psychisch extrem belastenden Situation (Phasen des Schocks, der Abwehr, Enttäuschung, Trauer, Wut, Verzweiflung, Schuldgefühle etc.) befinden.
Nur wenige Beratungsstellen
Eine solchermaßen psychosoziale Beratung wird von Beratungseinrichtungen angeboten, derer es in Österreich unseres Wissens nach (leider bloß) eine Handvoll gibt (zwei Einrichtungen in Wien, eine in Linz und eine Beratungsstelle in Graz).

Darüber hinaus beabsichtigt das BM für soziale Sicherheit und Generationen, im Rahmen der Schwerpunktförderung zur Schwangerenberatung für die Beratung im Umfeld von pränataler Diagnostik die Einrichtung von Schwerpunktberatungsstellen in jedem Bundesland finanziell zu unterstützen.
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"Diskurstag Gendiagnostik"
Am 24. 10. findet im Rahmen des Österreichischen Genomforschungsprogramms GEN-AU der Diskurstag "Gendiagnostik - was geht mich das an?" statt.
Ort: Kinosaal des Naturhistorischen Museums Wien;
Beginn: 9.00 Uhr; Veranstalter: bm:bwk und Plattform Gentechnik&Wir.

science.ORF.at ist Medienpartner dieser Veranstaltung und bringt dazu Diskussionsbeiträge, die bereits im Vorfeld zu der Thematik Stellung nehmen.
->   GEN-AU/Diskurstag
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Interdisziplinäre Beratung notwendig
Diese "alternativen" Beratungseinrichtungen, die zumeist im Rahmen von Familienberatung unter anderem Beratung im Umfeld pränataler Diagnostik anbieten, verstehen ihre Beratungstätigkeit als eine die genetische Beratung ergänzende:

Werdenden Eltern eines Kindes mit diagnostizierter genetischer Abweichung bzw. Fehlbildung soll die Möglichkeit geboten werden, in einem geschützten Rahmen den oben angesprochenen Gefühlen Raum zu geben, um sie zu verarbeiten und in halbwegs gefestigter Haltung eine für sich auch langfristig verantwortbare Entscheidung zu treffen.
Heilpädagogik ist nicht vertreten
Sie erkennen die Notwendigkeit einer interdisziplinären Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen, und es erstaunt, daß in bezug auf jenen Problembereich, in dem zentral das Phänomen Behinderung zu verorten ist, neben PsychologInnen, SozialarbeiterInnen, zuweilen JuristInnen, ÄrztInnen und Familien- und LebensberaterInnen keine einzige Heilpädagogin bzw. Heilpädagoge zu finden ist.
Das Phantom "Behinderung" begreifbar machen
Eine umfassende Beratung im Umfeld von pränataler Diagnostik kann sich nicht auf die Vermittlung "objektiver" genetischer Informationen beschränken (genetische Beratung), sie müsste die je individuelle und subjektiv empfundene Situation der Eltern, die mit dem Phänomen "Behinderung" konfrontiert werden, berücksichtigen und mithin (über eine psychologisch-psychotherapeutische bzw. psychosoziale Beratung hinausgehend) Bedingungen schaffen, das Phantom "Behinderung" (be-)greifbarer zu machen (heilpädagogische Beratung).
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Eine "vorbereitete Umwelt" schaffen
Dies hieße beispielsweise, Eltern einen Einblick darüber zu verschaffen, wie Menschen mit Behinderung und deren Angehörige ihren Alltag bewältigen; mögliche Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen mit entsprechender Behinderung aufzuzeigen; oder über heilpädagogische Fördermöglichkeiten zu informieren. Im Falle einer Entscheidung für die Geburt könnte gemeinsam mit den Eltern eine für das behinderte Kind "vorbereitete Umwelt" geschaffen werden.
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Heilpädagogische Beratung ermöglicht Reflexionen
Nicht zuletzt würde eine heilpädagogische Beratung zur Aufgabe haben, Raum zu schaffen für Reflexionen darüber, was "Behinderung" für die Eltern persönlich sowie im gesellschaftlichen Kontext bedeutet. Denn der Idee und zuweilen auch der Inanspruchnahme pränataler Diagnostik liegt, wie oben angedeutet, die normative Vor-Entscheidung zugrunde:

Behinderung soll nicht sein - Behinderung soll vielmehr verhindert, vermieden, verhütet werden. Die Frage zu stellen, warum Behinderung vermieden werden soll, stellt an sich schon eine Provokation dar - quer durch alle Bevölkerungs- und Berufsgruppen hindurch. Sich dieser Provokation zu stellen, erscheint uns (nicht bloß aus historischen Gründen) prinzipiell, aber auch in der konkreten Beratungssituation unumgänglich.
HeilpädagogInnen sind mit dem Komplexbereich Behinderung/Mensch mit Behinderung vertraut
Um Mißverständnissen vorzubeugen: PsychologInnen, SozialarbeiterInnen, JuristInnen, ÄrztInnen und Familien- und LebensberaterInnen verfügen zweifellos über unersetzbare Kompetenzen im Bereich psychosozialer Beratung im Umfeld von pränataler Diagnostik.

Sie verfügen möglicherweise auch infolge persönlicher Erfahrungen (Mensch mit Behinderung in Familie, Nachbarschaft u.ä.) über fundiertes Wissen rund um den Komplexbereich Behinderung/Mensch mit Behinderung - aber nicht auf Grund ihrer beruflichen Ausbildung. Von HeilpädagogInnen lässt sich dies erwarten.
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Gastbeitrag
Mag. Dr. Andrea Strachota
Studium der Pädagogik und Sonder- und Heilpädagogik; Universitätsassistentin am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Wien, Arbeitsgruppe für Sonder- und Heilpädagogik.
Forschungsschwerpunkt u.a.: Heilpädagogik und Pränataldiagnostik, Gentechnik, Euthanasie und Eugenik

Martina Gamperl
seit 1997 Studium der Pädagogik und Sonder- und Heilpädagogik an der Universität Wien; schreibt derzeit an ihrer Diplomarbeit zum Thema "Genetische Beratung und Heilpägagogik".
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Weitere Gastbeiträge zum "Diskurstag Gendiagnostik" in science.ORF.at:
->   Brigitte Ratzer: Gendiagnostik: Chance oder Risiko
->   Lisbeth.N.Trallori: Biotechnologien als Motor der gesellschaftlichen Transformation
->   Marianne Ringler: Gendiagnostik: Intrapsychische Bedeutung und Psychodynamik genetisch-diagnostischer Untersuchungen
->   Teresa Wagner und Verena Korn: Prädiktive Gendiagnostik: Psychosoziale Bedürfnisse und Betreuung von Familien mit erblichem Brust- und Eierstockkrebs
->   GEN-AU
->   bm:bwk
->   Plattform Gentechnik&Wir
 
 
 
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01.01.2010