News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Osteuropa: "Experimentierfeld" der Globalisierung  
  Die politische und wirtschaftliche Öffnung Mittel- und Osteuropas stellt gleichsam eine Experimentalsituation für die Verbreitung westlicher Produkte dar. Vor dem Jahr 1989 waren die Produktmärkte von westlichen Einflüssen weitestgehend abgeschottet. Heute stellt sich die Frage: Ist eine Angleichung der lokalen Märkte und des Konsumverhaltens an westliche Markt- und Verbrauchsstrukturen festzustellen, oder haben sich relativ eigenständige Muster erhalten bzw. herausgebildet?. Arnold Schuh von der WU-Wien ist dieser Frage im Rahmen eines Forschungsprojekts nachgegangen und stellt die Ergebnisse in einem Gastbeitrag für science.ORF.at vor.  
Globalisierung als Diffusionsprozess
Von Arnold Schuh

Eine beobachtbare Verbrauchsangleichung in Form einer zunehmenden Verwendung von internationalen, sprich westlichen, Markenartikeln in den Reformstaaten würde die These von der Globalisierung der Märkte stützen, dominieren hingegen lokale Marktgegebenheiten und Konsummuster die Produktwahl, dann
sollte sich dieser Umstand in einer höheren Bedeutung lokaler Marken niederschlagen.

Neben der Ermittlung der allgemeinen Bedeutung von westlichen Markenartikeln in Mittel- und Osteuropa ist die Frage von Interesse, ob Unterschiede im Kaufverhalten nach Produktkategorien und Ländern bestehen.
...
Die Untersuchung
In Kooperation mit dem Marktforschungsinstitut Fessel-GfK, das Paneldaten zur Verfügung stellte, wurden vier Produktgruppen (Waschmittel, Zahncreme, Schokoladewaren, kohlensäurehältige Soft Drinks) in vier ausgewählten Ländermärkten (Ungarn, Polen, Bulgarien, Ukraine) untersucht.
...
Hohe Anteile internationaler Marken
Dabei konnten für das Jahr 2001 in zwei Produktgruppen überaus hohe Anteile von internationalen Marken festgestellt werden: Die wertmäßigen Marktanteile reichten bei Waschmitteln von 50% (Ukraine) bis 90% (Bulgarien), bei Zahncreme von 45% (Bulgarien) bis 99% (Ukraine). Niedrigere Anteile internationaler Markenartikel waren bei Schokoladewaren - von 13% (Ukraine) bis 20% (Ungarn) - und bei Soft Drinks feststellbar.
Indirekte Globalisierung
Bei Soft Drinks streuten die Anteile von 9% in der Ukraine bis zu 65% in Ungarn. Diese Ergebnisse decken sich mit der Vermutung, dass bei Produktkategorien mit einer höheren Kulturgebundenheit im Konsumverhalten, was gerade für Nahrungsmittel typisch ist, eine stärkere Lokalisierungsneigung im Markenauftritt zu erkennen ist.

Allerdings zeigt sich hier ein "indirekter" Globalisierungseffekt. Obwohl bei Schokoladewaren die lokalen Marken mit 80% Marktanteil führend sind, gehören beispielsweise in Ungarn und Bulgarien ungefähr drei Viertel dieser lokalen Marken westlichen Unternehmen.
...
Bindung an traditionelle Marken und Geschmäcker
Die führenden westlichen Hersteller von Schokoladewaren wie Nestle und Kraft'Foods reagieren damit auf die besonders ausgeprägte Bindung der Konsumenten an traditionelle Marken und Geschmäcker. Sie offerieren im mittelpreisigen Massenmarktsegment die im Rahmen des Privatisierungsprozesses erworbenen und dann in der Aufmachung modernisierten lokalen Marken, während die bekannten internationalen Marken wie Milka, Suchard oder Nestlé im preislich und qualitativen Premium-Segment positioniert werden.
...
Alle Nachfragekategorien abgedeckt
Mit ihrem Portfolio aus lokalen und internationalen Marken decken die multinationalen Markenartikelunternehmen alle wesentlichen
Nachfragekategorien sowie alle Preis- und Qualitätslagen eines Marktes ab und schützen sich so gegen unerwartete Nachfrageverlagerungen, wie sie in Transformationsländern bei Wirtschaftskrisen oft vorkommen.
Wirtschaftsentwicklung und Anteil westlicher Marken
Ein weiteres interessantes Ergebnis der Untersuchung ist, dass kein eindeutiger positiver Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Entwicklungsstand eines Landes und dem Anteil westlicher Markenartikel festgestellt werden konnte.

Die ursprüngliche Annahme, dass die Kaufkraftunterschiede zwischen den wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern wie Ungarn und Polen sowie den Nachzüglern Bulgarien und der Ukraine einen klaren Einfluss auf den Kauf von westlichen Markenartikeln haben, konnte überraschenderweise in dieser Untersuchung nicht eindeutig bestätigt werden.
...
Bruttosozialprodukt und Markenwahl
So wurde bei Waschmitteln und Zahncremes wider Erwarten ein negativer Zusammenhang zwischen dem Bruttosozialprodukt pro Kopf und dem Anteil internationaler Markenartikel festgestellt, was bedeutet, dass in Ungarn und Polen nicht unbedingt die höchsten Marktanteile an internationalen Marken zu finden sind. Bei Schokoladewaren und Soft Drinks war hingegen die erwartete
positive Korrelation zu erkennen.
...
Zunehmende Globalisierung der Märkte
Obwohl aus dem Kaufverhalten von Markenartikeln noch auf keine totale Verbrauchsangleichung geschlossen werden kann, unterstützen die vorliegenden Ergebnisse die These der zunehmenden Globalisierung der Märkte - zumindest in Mittel- und Osteuropa.

Treiber dieses Prozesses sind die großen multinationalen Markenartikelunternehmen, für die Mittel- und Osteuropa eine wichtige Region in ihrer Wachstumsstrategie darstellt. Sie wollen dort nicht nur präsent sein, sondern streben auch ähnlich marktbeherrschende Positionen wie in ihren Heim- und Kernmärkten an.
Ein "Glücksfall" für Wirtschaftswissenschaftler
Die Öffnung Mittel- und Osteuropas ist nicht nur für die österreichische Wirtschaft ein Glücksfall, sondern auch für Wirtschaftswissenschaftler. Wann bietet sich schon die Möglichkeit, die Entstehung, Weiterentwicklung und Neustrukturierung von Märkten in einem riesigen Feldexperiment zu
beobachten?

Die Entwicklungen in Osteuropa helfen uns,
betriebswirtschaftliche Theorien und Konzepte besser zu verstehen und an Extremsituationen zu testen. Das Osteuropa-Marketing und Management bleibt damit weiterhin ein lohnendes Forschungsfeld.
...
Gastbeitrag und WU-Jahrestagung
Dr. Arnold Schuh forscht am Institut für Absatzwirtschaft -
Abteilung Marketing an der WU-Wien. Die detaillierten Ergebnisse seiner Studie wird er am 6. November um neun Uhr im
Rahmen der WU-Jahrestagung 2002 präsentieren. Die Tagung ist öffentlich zugänglich.
->   Informationen und Anmeldung zur WU-Jahrestagung
...
Weitere Beiträge von der WU-Jahrestagung in science.ORF.at:
->   Gunther Maier: Migration in Österreich
->   Helmut Kasper und Angelika Schmidt: Beruf oder Familie - Management im individuellen Konflikt
->   Gustaf Neumann und Bernd Simon: E-Learning - Hype oder Evolution des Lernens?
Mehr zum Thema Globalisierung in science.ORF.at
->   Der Mythos der Globalisierung
->   Globalisierungs-Ranking von Städten
->   Forum Alpbach: Was heißt kulturelle Globalisierung?
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010