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Genetische Pränataldiagnostik: Ein aktueller Überblick  
  Die pränatale genetische Diagnostik soll vor der Geburt Erkrankungen entdecken, die ausschliesslich genetisch bedingt sind. Die Fortschritte auf diesem Gebiet eröffnen der Gendiagnostik neue Perspektiven. Sie werfen aber auch Fragen nach den damit verbundenen Risiken und Entscheidungen der Betroffenen auf, die noch vor den absehbaren Anwendungen diskutiert werden sollten, meint der Genetiker Markus Hengstschläger in seinem Gastbeitrag anlässlich des "Diskurstages Gendiagnostik".  
Gendiagnostik am ungeborenen menschlichen Leben - Quo vadis?
Von Markus Hengstschläger

Die Pränataldiagnostik stützt sich primär auf die nichtinvasive Methode der Ultraschalldiagnostik. Gibt es zum Beispiel entsprechende Hinweiszeichen aus der Ultraschalluntersuchung, ist die Mutter über 35 Jahre alt oder liegen innerhalb der Familie bestimmte genetische Erkrankungen vor, so sind weiterführende pränatale genetische Untersuchungen zu erwägen.
Methoden der genetischen Diagnostik
Um genetische Untersuchungen am ungeborenen menschlichen Leben durchführen zu können benötigt man Zellen des Fetus. Diese können durch Chorionzottenbiopsie (in der 11.-13. Schwangerschaftswoche), durch Fruchtwasserpunktion (am häufigsten zwischen 14.-17. Schwangerschaftswoche) oder später durch Nabelschnurpunktion gewonnen werden.

Diese invasiven Eingriffe sind mit einem, wenn auch geringen (vielleicht zwischen 0.5-1%), Risiko verbunden, Schwangerschaftskomplikationen auszulösen. Heute beschäftigt sich die pränatale genetische Diagnostik mit der Untersuchung auf Erkrankungen, die ausschließlich genetisch determiniert sind.
Schlüsse aus genetischen Veränderungen
Das klinische Erscheinungsbild von Chromosomenstörungen, wie zum Beispiel Down Syndrom, Edwards Syndrom, Pätau Syndrom, oder von Erkrankungen, die durch Mutation in einem Gen ausgelöst werden, wie zum Beispiel Cystische Fibrose, ist im Wesentlichen genetisch bestimmt.

Diese Tatsache erlaubt es auch dem Pränataldiagnostiker je nach Auftreten der entsprechenden genetischen Veränderung einen Schluss darüber zu ziehen ob die Erkrankung das Kind betreffen wird oder nicht.
Neue Perspektiven
Jüngste Forschungsentwicklungen eröffnen neue Perspektiven für die Zukunft der Gendiagnostik in der Pränatalmedizin. Bei den ohne Zweifel bestehenden Vorteilen dieser neuen Entwicklungen müssen aber auch deren Risiken diskutiert werden.
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Genetische Polymorphismen und Chipdiagnostik ("DNA microarray analysis")
Bereits in vielen Forschungsprojekten davor aber auch im Zuge der Sequenzierung des menschlichen Genoms (Human Genome Project) wurde eine Unzahl von sogenannten Polymorphismen im humanen Erbgut entdeckt. Polymorphismen sind genetische Veränderungen in der DNA, die mit einer bestimmten signifikanten Wahrscheinlichkeit in der Bevölkerung auftreten. Es sind kleinste Unterschiede, die nicht notwendigerweise mit der Entstehung eines bestimmten Phänotyps (Erkrankung, menschliches Merkmal, bestimmte Enzymaktivität...) im direkten Zusammenhang stehen müssen. Andererseits kann das aber auch der Fall sein.
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Zusammenhänge zwischen dem Auftreten bestimmter Polymorphismus-Muster und bestimmten Merkmalen des Menschen
Die Technologie der sogenannten Chipdiagnostik ermöglicht es nun eine Vielzahl solcher Polymorphismen auf ihr Vorhandensein im Erbgut eines Patienten (natürlich auch pränatal unter Anwendung der oben beschriebenen invasiven Eingriffe) gleichzeitig und effizient zu untersuchen. Warum sollte man das aber tun?

Tagtäglich wird von neuen statistisch ermittelten Zusammenhängen zwischen dem Auftreten ganz bestimmter Muster solcher Polymorphismen im Erbgut eines Menschen und dem Auftreten eines Merkmals, einer Erkrankung etc. berichtet.

So werden Polymorphismus-Untersuchungen anhand von Chiptechnologie zum Beispiel auch eingesetzt um Voraussagen zu treffen ob bei einem Patienten das eine oder eben das andere Medikament von größerer Wirkung mit geringeren Nebenwirkungen ist.
Wahrscheinlichkeitsangaben
Es ergeben sich ohne Zweifel viele sehr sinnvolle Applikationen dieser neuen Forschungsergebnisse. Polymorphismus-Untersuchungen dienen in der Regel dazu Wahrscheinlichkeitsangaben zu machen. Der Träger eines bestimmten Musters hat eine höhere Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Herzinfarkt oder einer bestimmten Krebserkrankung. Hundertprozentige Aussagen kann man mit dem hier beschriebenen Ansatz in der Regel nicht machen - es geht wie gesagt um Wahrscheinlichkeiten.
Prophylaktische Maßnahmen
Das Wissen um ein erhöhtes Risiko für eine bestimmte Erkrankung kann ohne Zweifel von unschätzbarem Wert im Zusammenhang mit prophylaktischen medizinischen Maßnahmen sein. Ganz unter dem Motto: "Die Menschen sollen wissen für welche Erkrankungen sie besondere Risiken in ihren Genen tragen um als Folge daraus durch eine entsprechende Lebensführung/prophylaktische Medizin diese Risiken spezifisch minimieren zu können."
Nicht ausschließlich genetisch determiniert
Hundertprozentig können solche Aussagen schon auch oft deshalb nicht sein, weil es u.a. um Merkmale etc. geht, die nicht ausschließlich genetisch determiniert sind, sondern zu einem wesentlichen Anteil von der Umwelt mitbeeinflusst werden.

International warnen aber umsichtige Eingeweihte bereits vor Untersuchungen betreffend Assoziationen zwischen Polymorphismus-Mustern und dem Auftreten bestimmter menschlicher Merkmale, wie zum Beispiel Verhaltensauffälligkeiten.
Was dürfen Eltern fragen?
Im Zusammenhang mit pränataler Diagnostik geht es um den Aspekt ob Eltern die Frage nach solchen Polymorphismus-Untersuchungen, wenn einmal möglich, stellen dürfen. Dürfen Eltern an Pränataldiagnostiker die Frage stellen, ob die Wahrscheinlichkeit des Ungeborenen einmal an einer bestimmten Krebsart zu erkranken, einen Herzinfarkt zu bekommen oder Verhaltensauffälligkeiten zu zeigen, erhöht
Wichtige Fragen
Können Eltern Pränataldiagnostiker mit dem Wunsch konsultieren, doch innerhalb der erlaubten Frist für einen Schwangerschaftsabbruch (zum Beispiel anhand einer Chorionzottenbiopsie - siehe oben) mit Chipdiagnostik auf verschiedenste Wahrscheinlichkeiten zu checken?

Und ab welchem Set wie hoher Wahrscheinlichkeiten würde wer einen Schwangerschaftsabbruch in Erwägung ziehen? Welche der untersuchten Merkmale würden denn diese Eltern als "genug krank" für solch eine Schritt betrachten?
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Krankheitsbegriff und persönliche Sichtweisen
Gerade der Krankheitsbegriff ist so abhängig von persönlichen Sichtweisen, wie jüngste Beispiele tauber lesbischer Paare mit dem Wunsch durch eine Samenspende eines Tauben die Wahrscheinlichkeit für taube Kinder zu erhöhen gezeigt haben: Taubheit als Verständnis elitärer Zugehörigkeit und nicht als Krankheit; ..."ein taubes Kind, weil es so sein soll wie wir". Die genetischen Grundlagen für Taubheit sind heute noch nicht geklärt und dementsprechend ist eine genetische Pränataldiagnostik nicht möglich.

Gesucht wird aber auch noch nach ganz anderen Zusammenhängen. So ist zum Beispiel der amerikanische Genetiker Prof. Dean Hamer bereits vor fast 10 Jahren durch seine Studien betreffend einer Koppelung von Varianten von Abschnitten am Chromosom X und Homosexualität ("A linkage between DNA markers on the X chromosome and male sexual orientation", Science, 1993) bekannt geworden.
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Risiken müssen im Vorfeld diskutiert werden
Und noch einmal muss gesagt werden: Gentest, die betreffend solcher Fragestellungen hundertprozentige Aussagen treffen können, gibt es heute nicht und wird es auch wahrscheinlich nie geben. Aber sind nicht bereits geringfügige Verschiebungen in angegeben Prozentsätzen betreffend dem Auftreten bestimmter Verhaltenseigenschaften Zündstoff genug?

Eine so gestaltete Zukunft der Pränataldiagnostik ist noch gut davon entfernt gegenwärtige Realität zu sein - ihre Risiken müssen aber diskutiert werden bevor es soweit ist.
Gesetzliche Regelungen versus individuelle Freiheit
Inwieweit sollen, können oder müssen Regelungen, wie zum Beispiel ein Gentechnikgesetz, die individuelle Freiheit des Einzelnen beschneiden?

Die Pränataldiagnostik hat immer mehr als einen einzelnen Patienten: Einerseits Verständnis für die Wünsche der Eltern, andererseits die Sorge, dass der elterliche Krankheitsbegriff hier eine Selbstbestimmung des Ungeborenen beschneidet ohne ihn fragen zu können.
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Gastbeitrag und "Diskurstag Gendiagnostik"
Der Genetiker Univ.Prof. Mag. Dr. Markus Hengstschläger ist Leiter des Pränatalmedizinisch-genetischen Labors der Abteilung für Pränatale Diagnostik und Therapie der Universitätsklinik für Frauenheilkunde, AKH Wien.

Am 24. 10. fand im Rahmen des Österreichischen Genomforschungsprogramms GEN-AU der Diskurstag "Gendiagnostik - was geht mich das an?" statt.
Veranstalter: bm:bwk und Plattform Gentechnik&Wir.
science.ORF.at ist Medienpartner dieser Veranstaltung und bringt dazu Diskussionsbeiträge, die bereits im Vorfeld zu der Thematik Stellung bezogen haben.
->   GEN-AU/Diskurstag
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Weitere Beiträge zum "Diskurstag Gendiagnostik" in science.ORF.at:
->   Brigitte Ratzer: Gendiagnostik - Chance oder Risiko?
->   Lisbeth N. Trallori: Biotechnologien als Motor der gesellschaftlichen Transformation
->   Marianne Ringler: Gendiagnostik: Intrapsychische Bedeutung und Psychodynamik genetisch-diagnostischer Untersuchungen
->   Teresa Wagner und Verena Korn: Prädiktive Gendiagnostik: Psychosoziale Bedürfnisse und Betreuung von Familien mit erblichem Brust- und Eierstockkrebs
->   Andrea Strachota und Martina Gamperl: Beratung im Umfeld von pränataler Diagnostik und Heilpädagogik
->   Peter M. Kroisel: Konsequenzen aus der Genomforschung
->   GEN-AU
->   bm:bwk
->   Plattform Gentechnik&Wir
 
 
 
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01.01.2010