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ORF ON Science :  News :  Leben 
 
Leben als Netzwerk: Die Komplexitäts-Pyramide  
  Die Vertreter der Netzwerktheorie betrachten Lebewesen nicht als individuelle Wesen, sondern als Summe von abstrakten Pfaden und Knoten. Ein Ergebnis dieser ungewöhnlichen Sichtweise: So unterschiedlich einzelne Zellen im Detail auch sein mögen, in der Sprache der "Netzwerker" können alle Zellen mit dem Schema der "Komplexitäts-Pyramide" beschrieben werden.  
Zwei amerikanische Wissenschaftler - der eine Physiker, der andere Biomediziner - haben in einem Übersichts-Artikel einen abstrakten Blick auf die lebende Zelle riskiert. Ihr Resümee: Trotz der Vielfalt aller Lebewesen existiert eine universelle Architektur der Zelle.
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"Life's Complexity Pyramid"
Der Artikel "Life's Complexity Pyramid" von Zoltan N. Oltvai and Albert-Laszlo Barabasi ist in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins "Science" (Band 298, auf den Seiten 763-64) erschienen.
->   Zum Artikel (kostenpflichtig)
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Biologie - Wissenschaft der Vielfalt
Die Biologie unterscheidet sich von den beiden anderen Naturwissenschaften - der Physik und Chemie - unter anderem dadurch, dass sie eine ungeheuer große Anzahl von Studienobjekten zu bewältigen hat. Insgesamt gibt es derzeit ca. zwei Millionen beschriebene Tier- und Pflanzenarten.

Schätzungen über die tatsächliche Zahl aller Arten gehen weit auseinander, optimistische Experten meinen, es gebe mehr als zehn Millionen Spezies auf dieser Erde.
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Beispiel Käfer: Superstars der Artenzahl
Die Superstars der biologischen Vielfalt sind ohne Zweifel die Käfer: Geschätzte 400.000 bis 600.000 Arten nennt diese Insektenordnung ihr Eigen - in Anbetracht der Gesamtmenge aller anderen Spezies eine enorme Zahl. Der Biochemiker und Evolutionstheoretiker J.B.S. Haldane beschrieb diesen Umstand folgendermaßen: Als ihm einmal die Frage gestellt wurde, ob er an Gott glaube, wollte er keine definitive Antwort geben - fügte aber mit Kenntnis der biologischen Vielfalt hinzu: "Wenn es ihn gibt, dann muss er eine ungeheure Vorliebe für Käfer haben."
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Abstrakte Sicht der Netzwerktheorie
Es gibt auch eine völlig andere Strategie, die Eigenheiten der belebten Welt zu beschreiben. Ihr Name, "Netzwerktheorie", beinhaltet bereits die grundlegende Idee: Anstatt sich auf den Formenreichtum und die Vielfalt verschiedener Spezies zu konzentrieren, verfährt man in der biologischen Netzwerktheorie umgekehrt.

Hierin beschreibt man Zellen, Organismen und Ökosysteme als formale Netze und sucht auf diesem Weg nach verallgemeinerbaren Prinzipien des Lebens.
Die Komplexitäts-Pyramide
Eine Möglichkeit zu dieser formalen Beschreibung ist die so genannte "Komplexitäts-Pyramide", die in der Zellbiologie zur Anwendung gebracht wird. Gemäß dieser Betrachtungsweise werden an der Basis der Pyramide die einfachsten Bauteile jeder lebenden Zelle eingetragen: Nukleinsäuren (DNA und RNA), Proteine und Stoffwechselprodukte.

Die nächsthöhere Schicht bilden Systeme der genetischen Regulation sowie die wichtigsten Stoffwechselwege. Die Spitze der Pyramide kann nur mehr mit abstrakten Begriffen beschrieben werden: Hier ist die Rede von "funktionalen Modulen" und der "Organisation im großen Maßstab" (siehe Abbildung).
Vom Speziellen zum Allgemeinen
 
Bild: KATHARINE SUTLIFF/SCIENCE

Vom Speziellen zum Allgemeinen: Die Struktur der Komplexitäts-Pyramide gilt für alle lebenden Zellen.
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Der Teil und das Ganze - das Prinzip der Pyramide
Das Prinzip der Komplexitäts-Pyramide ist relativ leicht durchschaubar: Die Schichten existieren nicht unabhängig voneinander, sondern verhalten sich von unten nach oben wie der Teil zum Ganzen. Das heißt konkret: Gene, Proteine und Stoffwechselprodukte bauen gemeinsam die Systeme der genetischen Regulation sowie des Stoffwechsels auf. Diese sind wiederum die Bauteile von Netzwerken höherer Ordnung usw.
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An der Basis - Individualität
Soweit wäre diese Betrachtungsweise nur ein interessantes Prinzip, um Ordnung in die verwirrende Welt der Moleküle zu bringen. Wie allerdings Zoltan Oltvai und Albert-Laszlo Barabasi in ihrem Artikel ausführen, kann die Form der Komplexitäts-Pyramide durch "harte" Daten begründet werden.

Bei einem Vergleich von 43 verschiedenen Organismen wurde z.B. gezeigt, dass diese äußerst unterschiedliche Stoffwechselprodukte in ihren Zellen aufweisen: Die Schmittmenge betrug lediglich vier Prozent - was den Schluss zulässt, dass das Repertoire der einzelnen Moleküle bei jeder Tier- und Pflanzenart (mehr oder weniger) einzigartig ist.
An der Spitze - einheitliche Prinzipien
Anders sieht die Sache in höheren Schichten aus: Gewisse Hauptpfade und Knoten des Stoffwechsels finden sich bei sehr vielen Arten. In einer früheren "Nature"-Veröffentlichung konnte Barabasi mit Mitarbeitern anhand einer mathematischen Analyse zeigen, dass Stoffwechselnetze - so unterschiedlich sie im Detail sein mögen - ganz ähnlich organisiert sind.
Stoffwechselknoten sind wie Flughäfen
Es gibt in Stoffwechselsystemen gewisse Knotenpunkte und Drehscheiben, auf die andere Stoffwechselwege zulaufen - und diese sind allgegenwärtig. Ein analoges Beipiel wäre etwa der Flughafen London Heathrow, der im europäischen Flugverkehr einen wichtige Rolle spielt - und zwar unabhängig davon, von welchen konkreten Fluglinien die Destinationen angeboten werden.
Das Prinzip der Universalität
Dies bedeutet, dass die Komplexitäts-Pyramide folgendermaßen interpretiert werden kann: Mit jedem Schritt von der Basis ("den Bauteilen") zur Spitze ("dem Ganzen") erreicht man eine Schicht, deren Netzwerkeigenschaften von höherer Allgemeingültigkeit sind. Dies lässt sich in der formalen Sprache der Netzwerktheorie belegen.

Was die allgemeine Organisationsform von Zellen anbelangt, folgern Oltvai und Barabasi: So unterschiedlich die einzelnen Gene und Moleküle in jeder Zelle auch sein mögen, alle Zellen sind nach einer universalen Architektur gestaltet.
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01.01.2010