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Neues Buch zu den "Benes-Dekreten"  
  Ein neues Buch will die zum größten Teil emotional geführte Debatte um die "Benes-Dekrete" entschärfen und durch Fakten bereichern. Montag abend wurde es in Wien präsentiert.  
Das Buch "Die Benes-Dekrete", herausgegeben von Barbara Coudenhove-Kalergi und Oliver Rathkolb, ist im Czernin-Verlag erschienen (204 Seiten, 19 Euro).

Die Beiträge stammen von deutschen, österreichischen, tschechischen und amerikanischen Autoren. Darunter ist auch die erste deutsche Übersetzung von Edvard Benes' Darstellung aus dem Jahr 1947 mit dem Titel "Die Aussiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakei".
->   Czernin-Verlag
Warum erst jetzt?
50 Jahre lang waren sie kein Thema, jetzt sind sie sogar zur Koalitionsfrage geworden (Anm. TV-Duell von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) vs. Sozialminister Herbert Haupt (FPÖ)). Warum sind die Benes-Dekrete und die Vertreibung der Deutschen aus der ehemaligen Tschechoslowakei jetzt in aller Munde, zu einem Zeitpunkt, wo viele Betroffene tot sind? Diese Frage stellt die Journalistin und Herausgeberin Barbara Coudenhove-Kalergi.
Drei Gründe für späte Diskussion
Zum einen habe die FPÖ die Benes-Dekrete zum Thema gemacht, zum anderen habe die EU-Erweiterung zum Nachdenken angeregt und Ängste hervorgerufen. Als dritten Punkt nennt Barbara Coudenhove-Kalergi die Restitutionszahlungen Österreichs an die Zwangsarbeiter des NS-Regimes und an die Holocaust-Überlebenden: "Viele Leute haben das Gefühl, dass wir uns mit der Vergangenheit mehr oder weniger 'arrangiert' haben. Was ist mit der anderen Seite? Was ist mit 'unseren' Toten?" fasst die Journalistin die Stimmung einiger Betroffenen zusammen.
Emotionalisierung durch zweite Generation
Ein Grund dafür, dass die Benes-Dekrete derzeit gefühlsbeladen in Medien und Politik vorkommen, ist für den Zeitgeschichtler Oliver Rathkolb, dass es die Kriegsgeneration praktisch nicht mehr gebe, sondern sich die zweite Generation damit befasse.

Es seien vor allem jene, die als Kinder vertrieben worden sind, und es seien auch viele Frauen, die sich heute des Themas annehmen. Auch in den Dokumentationen spielen diese Personen als Zeitzeugen und Zeitzeuginnen eine Rolle, sagt Rathkolb: Dabei werde eine andere Geschlechter- und Generationsebene angesprochen.

Das helfe auch, die These der Kollektivschuld von diesem Thema zu nehmen, sagt der Zeithistoriker. Es gäbe keine "politischen Täter" mehr, sondern es werde ein gesellschaftliches Phänomen diskutiert.
Zwei Völker, zwei Geschichten
Zwei Völker, zwei Geschichten - lautet der Untertitel des Aufsatzes von Barbara Coudenhove-Kalergi im neuen Buch. Die Vertreibung der Deutschen sei von Deutschen anders wahrgenommen worden, als von Tschechen: "Für die Deutschen ist es das Verbrechen aller Verbrechen."

Für die Sicht der tschechischen Seite zitiert sie aus den Erinnerungen von Edvard Benes: es war eine "Frage der Minderheiten", die "gelöst" werden musste, so Benes. Das halte der Staat nicht aus, dass eine Minderheit von drei Millionen [fast ein Drittel der Bevölkerung merkt Coudenhove-Kalergi an] den Staat nicht anerkennt und sich weigert, die Landessprache zu lernen.
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Barbara Coudenhove-Kalergi
Geboren 1932 in Prag. Journalistin bei "Die Presse", "Neues Österreich", "Kurier" und "Arbeiter-Zeitung", später beim ORF. Bisherige Veröffentlichungen: "Leitlinien" (gemeinsam mit Werner Korn, 1993); "Mitsuko" (Stück über das Leben der japanischen Großmutter, 1998).
Oliver Rathkolb
Zeithistoriker, nicht angestellter Univ-Doz. an der Universität Wien. Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte und Gesellschaft; wissenschaftlicher Leiter der Internetplattform Demokratiezentrum Wien.
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Opfer auch Täter
Der deutsche Historiker Volker Zimmermann schreibt, dass beide Seiten, Sudetendeutsche wie Tschechen Leid und Unrecht erfahren hätten. Die Tschechen würden sich als Opfer der nationalsozialistischen Unterdrückung sehen, die Sudetendeutschen als Opfer der Vertreibung durch die Tschechen. Heute gelte es aber, die Verantwortung der eigenen Seite aufzuarbeiten und die eigene Seite auch als Täterseite zu begreifen.
Stichwort Benes-Dekrete
Die Dekrete des tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Benes ermöglichten nach dem Zweiten Weltkrieg die Enteignung und Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei. Sie wurden als "Vergeltung" dafür dargestellt, dass das NS-Regime die Tschechoslowakei zerschlagen hatte und im Sudetengebiet die tschechische Bevölkerung enteignet und zum Teil vertrieben hatte.
Aktuelle, politische Diskussion
1999 hat der tschechische Regierungschef Milos Zeman die Dekrete als nicht mehr wirksam bezeichnet, eine Aufhebung der Dekrete war das freilich nicht. Die Aufhebung der Benes-Dekrete wollen aber vor allem FPÖ-Politiker zur Voraussetzung für einen EU-Beitritt Tschechiens machen.

In einem Gutachten hat der deutsche Jurist Jochen Frowein kürzlich jedoch in den Benes-Dekreten kein Hindernis für den EU-Beitritt Tschechiens gesehen.

Barbara Daser, Ö1-Wissenschaft
->   Demokratiezentrum
->   science.ORF.at-Kommentar von Oliver Rathkolb zu den Benes-Dekreten
->   Mehr zu den Benes-Dekreten in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010