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Die "Bogdanov-Affäre" beschäftigt die Wissenschaft  
  Einmal mehr hat ein - vermeintlicher - "Betrugsfall" in Wissenschaftskreisen für Aufregung gesorgt: Die beiden Brüder Igor und Grichka Bogdanov, so wurde zunächst im Internet kolportiert, sollen sich einen Scherz mit den Vertretern der theoretischen Physik erlaubt und in angesehenen Fachzeitschriften Artikel veröffentlicht haben, die schlichtweg absurd und erfunden waren. Die Brüder dementierten, die Aufsätze seinen ernst gemeint - inzwischen jedoch wurden ihre Arbeiten von Physikern tatsächlich als Nonsens klassifiziert. Erneut also ein Fall, bei dem das wissenschaftliche Publizieren bzw. das ohnehin schwer gebeutelte Peer-Review-Verfahren auf dem Prüfstand zu stehen scheint.  
Die Zwillingsbrüder Igor und Grichka Bogdanov, beide Wissenschaftsjournalisten beim französischen Sender "France 2", hatten in diversen Fachjournalen Artikel zu Themen aus dem Bereich der theoretischen Physik publiziert. Beide promovierten an der Universite de Bourgogne.
Nichts als ein Scherz?
Gegen Ende Oktober 2002 jedoch breitete sich per E-mail das Gerücht aus, die Veröffentlichungen der Bogdanov-Brüder seien Nichts als ein Scherz. Die Geschichte machte - zunächst nur in Physiker-Kreisen - die Runde und sorgte innerhalb weniger Tage für hitzige Diskussionen zur Frage nach dem Stand der theoretischen Physik.

John Baez, mathematischer Physiker an der University of California (Riverside), nahm sich des Themas an und veröffentlichte einen Text zu der "Affäre Bogdanov": Physics bitten by reverse Alan Sokal hoax?.

Die Aufregung war perfekt, hatten Igor und Grichka Bogdanov tatsächlich - in Anlehnung an Alan Sokal - die Vertreter der theoretischen Physik durch Nonsens-Publikationen vorgeführt?
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Alan Sokal und "Transgressing the Boundaries"
Der Physiker Alan Sokal von der New York University hatte 1996 in der Zeitschrift Social Text den Aufsatz "Transgressing the Boundaries: Toward a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity" veröffentlicht - vordergründig ein Versuch, eine Brücke zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu schlagen.

Doch wenig später entlarvte Sokal seinen Text als einen "Scherz", eine Parodie auf die Argumentationsweise der postmodernen Sozialwissenschaften. Sein "mit Unsinn reichlich gespickter" Artikel sei ein Experiment gewesen, um den "vorherrschenden intellektuellen Standard" zu testen, schrieb Sokal in einem Folgeartikel.
->   Sokals Originalartikel sowie weitere Publikationen zu dem Thema
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Die Bogdanovs dementierten ...
Ein Wissenschaftsjournalist der New York Times wurde auf das Thema aufmerksam und recherchierte nach: Beide Bogdanovs dementierten - wieder machten E-Mails die Runde und wurde in Internet-Foren heiß diskutiert. Doch so oder so standen nun die dem Aufruhr zugrunde liegenden Arbeiten zur Diskussion.
... doch ihre Arbeiten geraten in die Kritik
Baez etwa bezeichnet sie schlicht als "Geschwafel". Laut einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung bedauerten schließlich selbst die Herausgeber der betreffenden Journale - darunter die Annals of Physics und Classical and Quantum Gravity - in einer Pressemitteilung die Veröffentlichung.
Was heißt "wissenschaftliches Publizieren"?
Hier stellt sich schlicht die Frage, was "wissenschaftliches Publizieren" heißt - oder zu welchem Zweck es geschieht. Die Antwort scheint einfach: Publikationen sollten dem Austausch von Informationen, der öffentlichen Diskussion von Forschung dienen.

Doch erwarten die Leser solcher Publikationen zu Recht, dass sie sich auf Qualität und Wahrheitsgehalt dieser Informationen verlassen können - tatsächlich aber kommt es immer wieder vor, dass trotz regulativer Verfahren der Journals beispielsweise gefälschte Daten zur Veröffentlichung gelangen.
"Peer Review": Einmal mehr im Zentrum der Kritik
Letztlich steht also einmal mehr ein Verfahren auf dem Prüfstand, das gerade durch einen Skandal jüngeren Datums schwer gebeutelt ist: "Peer Review" als Gutachterverfahren, das eigentlich dafür sorgen sollte, dass nur qualitativ hochwertige und einwandfreie Artikel auch publiziert werden.
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Veröffentlichung erst nach Durchsicht von Fachleuten
Üblicherweise bekommen ein oder mehrere anonyme Fachkollegen ("Peers") ein Manuskript zugesandt, das sie mit einer fachlichen Beurteilung versehen und gegebenenfalls Änderungen beanstanden ("Review"). Im Fall von eingereichten Artikeln machen die Herausgeber wissenschaftlicher "Journals" die Veröffentlichung (bzw. Ablehnung) meist von diesen Urteilen abhängig.
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Wie kann sich die Wissenschaft davor schützen?
Der Aufsehen erregende Betrugsfall Schön - der deutsche Physiker hatte nachweislich gefälschte Daten publiziert - warf die Frage auf, wie sich die Wissenschaftszeitschriften besser vor gefälschten Forschungsergebnissen schützen könnten.
->   science.ORF.at: Nobelpreis-Anwärter als Fälscher entlarvt
Mehr Transparenz für wissenschaftliches Publizieren
Eine Möglichkeit, die immer wieder als Ausweg aus diesem Dilemma genannt wird, wird unter dem Stichwort Transparenz bzw. mehr Transparenz propagiert:

Autoren wissenschaftlicher Artikel sollen, so der Grundgedanke, ihre Arbeit bereits vor einer Publikation in Internet-Foren zur öffentlichen Diskussion stellen. Kollegen weltweit können die Artikel in Foren kommentieren, gegebenenfalls kann der Autor auf Kritik hin den Text erneut überarbeiten.

Die Intention ist klar: Nicht nur die offene Diskussion über wissenschaftliche Ergebnisse wird damit angeregt - auch ein Betrugsversuch wird unwahrscheinlicher, je mehr Fachleute sich die Ergebnisse eines Kollegen ansehen (können).
arXiv.org und andere Beispiele
Dafür gibt es bereits diverse Beispiele: So bietet etwa das E-Print-Archiv arXiv.org eine Plattform für naturwissenschaftliche Artikel. Eine andere Initiative findet sich bei der Fachzeitschrift "Atmospheric Chemistry and Physics" (ACP), publiziert von der Europäischen Geophysikalischen Gesellschaft.

60 internationale Atmosphärenforscher fungieren als Herausgeber, der Publikationsprozess ist zweistufig und verbindet das Peer-Review-Verfahren mit einer öffentlichen Diskussion der Beiträge:

Manuskripte, die Editoren und Gutachter in einem raschen und effizienten Vorauswahlprozess als grundsätzlich publikationswürdig einstufen, werden ohne weitere Verzögerung im Internet-basierten Diskussionsforum von ACP, dem Forum "Atmospheric Chemistry and Physics Discussions" (ACPD), publiziert.
->   "Atmospheric Chemistry and Physics"
->   www.arXiv.org
Die Verantwortung der "scientific community"
Auf die Causa Schön bezieht sich auch ein Kommentar, erschienen im aktuellen "Nature": Die offensichtliche Lehre aus diesem Fall sei, dass Betrug sich nicht auszahle, schreibt der Autor. Die weniger offensichtliche Lehre: dass Verhindern und Kontrolle in der Verantwortung eines jeden Mitgliedes der "scientific community" liege - eine Möglichkeit, diese Verantwortung tatsächlich wahrzunehmen, liegt etwa in den Online-Archiven.
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at:
->   "Peer Review" im Kreuzfeuer der Kritik
->   Kann wissenschaftliche Qualität gemessen werden?
->   Mehr Transparenz für wissenschaftliches Publizieren
 
 
 
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01.01.2010