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Neue Technik: "Momentaufnahme" von intakten Zellen  
  Wenn Wissenschaftler bislang die in einer Zelle ablaufenden Vorgänge genauer untersuchen wollten, mussten sie dies in vitro - im Reagenzglas - tun und die Zellen dafür langwierig präparieren. Eine mögliche Folge dieser Vorbereitungen sind allerdings Verfälschungen der Ergebnisse. Forschern vom Max-Planck-Institut für Biochemie ist nun erstmals der Blick in eine intakte Zelle mit Zellkern gelungen - dank eines von ihnen entwickelten Verfahrens. Ein Beweis dafür, dass es möglich ist, "Momentaufnahmen" von Zellen höherer Organismen zu erhalten.  
Die Ergebnisse ihrer Forschungen haben die Wissenschaftler um Wolfgang Baumeister von der Abteilung Molekulare Strukturbiologie am Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried in der aktuellen Ausgabe des US-Fachjournals"Science" veröffentlicht.
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"Macromolecular Architecture in Eukaryotic Cells"
Der Artikel " Macromolecular Architecture in Eukaryotic Cells Visualized by Cryoelectron Tomography" ist erschienen in "Science", Bd. 298, Nr. 5596, Seiten 1209-1213, vom 8. November 2002.
->   Der Originalartikel (kostenpflichtig)
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Mögliche Verfälschungen durch Präparation
Bislang wurden Zellen zur In-vitro-Untersuchung zunächst in langwieriger Kleinarbeit isoliert, gereinigt und präpariert. Erst dann konnten Forscher die einzelnen Bestandteile genauer untersuchen - und versuchen, aus ihrer Funktion und Struktur auf die eigentlichen Abläufe in der lebenden Zelle zu schließen.

Das Problem: Dabei muss mit möglichen Verfälschungen der Ergebnisse gerechnet werden, die durch die Methoden der Präparation (Entwässerung, chemisches Fixieren oder Färbung) hervorgerufen werden können.
"Elektronentomographie": 3-D-Einblicke in die lebende Zelle
Die Forscher um Wolfgang Baumeister haben nun jedoch ein Verfahren - die so genannte Elektronentomographie - entwickelt, mit dem es gelingt, Zellbestandteile und Molekülkomplexe als eine Art "Momentaufnahme" der lebenden Zelle sichtbar zu machen.

Dadurch werde es jetzt erstmals möglich, die Kommunikation und die Wechselwirkungen einzelner Zellorganellen bzw. Zellstrukturen in der natürlichen Umgebung im Organismus - in vivo und das heißt live - zu studieren, so die Wissenschaftler. Als Untersuchungsobjekt diente ein Vielzeller: der Schleimpilz Dictyostelium discoideum.
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Elektronentomographie: Bei Bakterien bereits erfolgreich
Seit über zehn Jahren arbeiten die Martinsrieder Forscher an der Entwicklung der Elektronentomographie - ein Verfahren, bei dem die Elektronenmikroskopie mit automatisierten Bildaufzeichnungsverfahren und neuer Bildanalysetechnik kombiniert wird. So konnten sie bereits in das Innere von Bakterienzellen schauen und Zellbestandteile wie Membranen und Molekülkomplexe dreidimensional darstellen. Im Gegensatz dazu handelt es sich jedoch bei Dictyostelium discoideum um Eukaryoten, d.h. um Zellen mit einem Zellkern, wie sie bei höheren Organismen vorkommen.
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Mehrere Blickwinkel für ein dreidimensionales Bild
Das von den Martinsrieder Wissenschaftlern entwickelte Verfahren - die Elektronentomographie - unterscheidet sich nicht prinzipiell von anderen tomographischen Bildgebungsverfahren, wie sie etwa in der Medizin (Computertomographie) angewandt werden:

Von einem Objekt werden am Elektronenmikroskop Bilder aus verschiedenen Blickwinkeln und in verschiedenen Ebenen aufgenommen. Aus diesen verschiedenen zweidimensionalen Bildern lässt sich ein dreidimensionales Bild rekonstruieren.

Im Gegensatz jedoch zur medizinischen Computertomographie wird bei der Elektronentomographie das zu untersuchende Objekt im Strahl des Elektronenmikroskops gekippt, während die "Lichtquelle", also die Quelle der Elektronenstrahlen, an ihrem Platz verbleibt.
Das Prinzip der Elektronentomographie
 
Grafik: Max-Planck-Institut f¿r Biochemie

Im ersten Schritt (Abbildung links) wird ein Objekt aus vielen unterschiedlichen Winkeln aufgenommen. Im zweiten Schritt (Abbildung rechts) werden die Abbildungen "rückprojiziert" und im Computer zu einem räumlichen Modell zusammengesetzt.
Zellen zunächst schockgefroren
Objekte, die elektronentomographisch untersucht werden sollen, werden zunächst schockgefroren (vitrifiziert) und in amorphem Eis beobachtet. Sie sind völlig intakt - Artefakte, also Störungen durch eine Präparation, werden nach Angaben der Max-Planck-Forscher bei diesem Verfahren vermieden.
Problem: Hohe Strahlenempfindlichkeit
Die natürlichen Proben sind jedoch außerordentlich strahlenempfindlich, daher versuchen die Wissenschaftler die Dauer der Bestrahlung so kurz wie möglich zu halten. Andererseits braucht man möglichst viele Bilder aus verschiedenen Winkeln - erst das gewährleistet Qualität und Präzision der 3D-Rekonstruktion.

Die MPG-Wissenschaftler mussten daher zunächst umfangreiche Vorarbeiten leisten: So stellten sie beispielsweise künstliche Zellen her und füllten sie mit Proteinkomplexen, die sie aus natürlichen Zellen isoliert hatten und deren Struktur bereits bekannt war. An diesen optimierten die Forscher ihr Verfahren.
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Die theoretischen Grundlagen zur Datenbearbeitung
Die theoretischen Grundlagen zur Datenbearbeitung publizierten Achilleas S. Frangakis und seine Kollegen aus der Baumeister-Abteilung in der neuesten Ausgabe der "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS).

Der Artikel "Identification of Macromolecular Complexes in Cryoelectron Tomograms of Phantom Cells" ist erschienen in den PNAS, Bd. 99, Nr. 22, Seiten 14153-14158, vom 29. Oktober 2002 (doi: 10.1073/pnas.172520299).
->   Abstract des Originalartikels
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Proteine: Weniger dicht als erwartet
Foto: Max-Planck-Institut f¿r Biochemie
Die Membranen sind blau dargestellt, die Ribosomen grün-gelb. Das raue Endoplasmatische Retikulum ist ein Membransystem, das an der Proteinbiosynthese in der Zelle beteiligt ist.
Bei der erstmaligen Untersuchung eines Eukaryoten, stellten die Wissenschaftler nun fest, dass eine eukaryotische Zelle nicht so dicht gepackt ist, wie ursprünglich angenommen, und dass die einzelnen Proteinkomplexe der Zelle deshalb auch gut zu visualisieren sind.

Das Team konnte zwischen 300 und 600 Nanometer dünne Zellregionen elektronentomographisch untersuchen. Dabei machten sie erstmals ein mit Ribosomen besetztes Endoplasmatisches Retikulum (raues ER) - ein Membrannetzwerk in Eukaryotenzellen, das Proteine und neue Membranen produziert - deutlich in der intakten Zelle sichtbar.
Proteine als Skelett der Zelle
Die besten Bilder erhielten die Wissenschaftler jedoch von Proteinen, die das Skelett der Zelle bilden - den so genannten Aktinfilamenten. Diese Strukturproteine durchziehen wie Fäden das gesamte Zellinnere. Sie stabilisieren die Form der Zelle, sind für ihre Fortbewegung unerlässlich und an wesentlichen intrazellulären Transport-Prozessen beteiligt.

Die Aufnahmen dieses so genannten Cytoskeletts von Dictyostelium zeigen, dass es zwischen den einzelnen Filamenten zu Brückenbildungen kommt, dass die verschiedenen Aktinstränge in unterschiedlichen Winkeln zueinander verknüpft sind und dass sie auch mit der Zellmembran verbunden sind.
Aufnahmen des Cytoskeletts von Dictyostelium
 
Alle Aufnahmen: Max-Planck-Institut f¿r Biochemie

Abbildung links: Darstellung des Cytoskeletts einer eukaryotischen Zelle, das von Aktinfilamenten (rötlich braun) gebildet wird. Der dargestellte Ausschnitt ist nur 815 x 870 x 97 Nanometer groß. Abbildung mitte: Aufnahmen von Aktinfilamenten (rötlich braun), die in unterschiedlichen Winkeln miteinander verknüpft sind. Abbildung rechts: Aktinfilamente (rötlich braun), die an die Zellmembran (blau) binden.
Ziel: Ein komplexes Modell der gesamten Zelle
"Die Elektronentomographie eröffnet uns nun die Möglichkeit, eine vollständige Beschreibung der räumlichen Interaktionen von Proteinkomplexen in der Zelle wiederzugeben", kommentiert Wolfgang Baumeister die Forschungsergebnisse.

"Unser Ziel ist es, das komplexe Modell der gesamten Zelle zu beschreiben, nicht nur die Funktionen einzelner Moleküle und Organellen, wie es bisher möglich war, sondern der gesamten Zellstrukturen. Durch die Elektronentomographie können wir Belege für Theorien liefern, die Wissenschaftler in der Vergangenheit nur anhand der Struktur der einzelnen Komponenten aufgestellt hatten."
->   Max-Planck-Institut für Biochemie
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01.01.2010