News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Leben 
 
Systembiologie: Die Zelle wird berechenbar  
  Tagtäglich produzieren Biowissenschaftler eine Fülle neuer Daten über die Bestandteile der lebenden Zelle. Trotzdem ist die Frage, wie aus der Summe der zellulären Einzelteile das beobachtbare Verhalten entsteht, nach wie vor offen. In der noch jungen Disziplin der "Systembiologie" rückt man der Antwort auf diese Frage näher: Wissenschaftlern gelang es jetzt erstmals, mit einem mathematischen Modell eines Bakterien-Stoffwechsels das Verhalten einer Zelle vorherzusagen.  
Jörg Stelling und seinen Mitarbeitern vom Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme gelang ein Einblick in die Konstruktionsprinzipien der lebenden Zelle: Durch mathematische Analysen konnten sie erklären, warum Zellen auch dann funktionieren, wenn sie massiven Störungen ausgesetzt sind.
...
"Metabolic network structure"
Die Studie "Metabolic network structure determines key aspects of functionality and regulation" von Jörg Stelling, Steffen Klamt und Mitarbeitern erschien in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins "Nature" (Band 420, auf den Seiten 190-193, vom 14. November 2002).
->   Zum Artikel (kostenpflichtig)
...
Forschungsrichtung Systembiologie
Lebende Zellen zeichnen sich durch eine außerordentliche Komplexität aus. Schon bei einfachen Bakterien umfassen die Netzwerke des Stoffwechsels und der genetischen Regulation mehrere tausend Komponenten, die miteinander in Wechselwirkung treten. Intuitiv lässt sich diese Komplexität nicht mehr erfassen.

Die relativ neue Forschungsrichtung "Systembiologie" kombiniert experimentelle und theoretische Untersuchungsmethoden, um auf diesem Wege einem umfassenden Verständnis lebender Zellen näher zu kommen.

Dabei stützen sich die theoretischen Ansätze wesentlich auf die Entwicklung und Analyse mathematischer Modelle, die Voraussetzungen für ein "virtuelles Labor" in der Biologie schaffen: Experimente sollen in Analogie zur realen Laborsituation auf effiziente Weise am Computer durchführbar werden.
Netzwerkanalyse: Wie wirken Gendefekte?
So genannte Netzwerkstrukturanalysen wurden bereits angewandt, um festzustellen, inwieweit sich Gendefekte auf die Lebensfähigkeit eines Organismus auswirken. Fundamentale Fragen blieben allerdings bislang unbeantwortet:

Bedingt die Struktur des Stoffwechsels die Anpassungsfähigkeit von lebenden Organismen an wechselnde Umweltbedingungen und interne Schädigungen? Und welche Rolle spielt hierbei die genetische Regulation?
...
Die Methode: "Elementarmodenzerlegung"
Ausgangspunkt für die Untersuchungen der deutschen Wissenschaftler war die Zerlegung komplexer Stoffwechselnetzwerke in ihre kleinsten funktionalen Einheiten, die so genannten Elementarmoden. Diese charakterisieren die Netzwerkstruktur eindeutig, durch Überlagerung werden dann auch alle in diesem Netzwerk möglichen Verteilungen von Stoffflüssen mathematisch erfasst. Die Methode der Elementarmodenzerlegung wurde von den deutschen Forschern erstmals auf ein Netzwerk realistischer Komplexität angewendet.
...
Darmbakterium als Untersuchungsobjekt

Das Stoffwechselmodell
Im Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stand der zentrale Stoffwechsel des Darmbakteriums Escherichia coli, eines gut untersuchten Modellorganismus.

Das Stoffwechselmodell (siehe Abbildung) umfasst 89 Komponenten und 110 Reaktionen. Es ermöglicht die Beschreibung von Nährstoffaufnahme, -umsetzung und Zellwachstum. Die Anzahl der Elementarmoden entspricht der Anzahl alternativer Stoffwechselwege und spiegelt somit die Flexibilität des Stoffwechsels wieder.

Das Modell ermöglicht den Wissenschaftlern nun zu simulieren, was im Falle eines Gendefekts passiert. Im Vergleich mit publizierten experimentellen Befunden zeigte sich, dass die Methode tatsächlich mit 90-prozentiger Zuverlässigkeit eine Vorhersage erlaubt, ob Zellen mit genetischen Defekten überlebensfähig sind. Damit liefert sie einen starken Indikator für das Verhalten des Organismus.
Wie werden Störungen kompensiert?
Eine zentrale Frage in der Systembiologie ist, warum Organismen in der Regel sehr robust auf interne oder externe Störungen reagieren. Intuitiv ist anzunehmen, dass dies mit der Flexibilität des - in diesem Fall - zellulären Stoffwechsels zusammenhängt.

Die von den deutschen Wissenschaftlern entwickelten Methoden bestätigten diese Annahme: Gendefekte beinträchtigen das Wachstum der Zelle in vielen Fällen weder qualitativ noch quantitativ. Ein Grund dafür ist ganz offensichtlich die starke Redundanz von Stoffwechselwegen.

Darüber hinaus konnten die Forscher zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Gendefekt durch den Organismus toleriert wird, direkt mit der Anzahl der Elementarmoden korreliert.
Zellen "ahnen" Störungen voraus
Voraussetzung für die "Robustheit" der realen Zelle ist, dass die von den Forschern im Modell simulierten alternativen Stoffwechselwege tatsächlich auch installiert werden.

Mit der neu entwickelten Form der Netzwerkanalyse war es den Wissenschaftlern nun möglich, Muster der Geneaktivierung allein aus der Struktur des Stoffwechsels vorherzusagen.

Ein für das Verständnis der Logik der zellulären Regulation wichtiger Befund ist dabei, dass die Zellen nicht nur die (momentane) Wirksamkeit ihres Stoffwechsels maximieren, sondern offenbar gleichzeitig mögliche Störungen quasi vorausahnen.
->   Max-Planck-Institut für Dynamik komplexer technischer Systeme
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Leben 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010