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Schmerzhemmung ohne Nebenwirkungen?  
  Die Kommunikation zwischen den Zellen des zentralen Nervensystems wird durch chemische Botenstoffe ermöglicht. Die Mechanismen der Signalübertragung und -regulierung sind aber nur teilweise bekannt. Jetzt gelang es Wissenschaftlern, die Struktur eines Enzyms zu entschlüsseln, das wichtige Funktionen des zentralen Nervensystems beeinflusst - unter anderem die Empfindung von Schmerz. Sollte das Enzym wirksam gehemmt werden können, wäre ein völlig neuer Typ von Schmerzmittel vorstellbar - gänzlich ohne Nebenwirkungen.  
Das neu entdeckte Enzym baut bestimmte fetthaltige Signalmoleküle in der Zellmembran von Neuronen ab. Dabei geht das so genannte FAAH (fatty acid amide hydrolase) recht ungewöhnlich vor.

Das Enzym reguliert die durch die Signalübertragung ausgelösten Effekte, indem es die Signalüberträger, die Lipide, aus der Zellmembran herausschält und sozusagen zerkaut.
Schmerzmittel ohne Nebenwirkungen
Die Entschlüsselung dieses Mechanismus könnte als Vorlage für die Entwicklung schmerzhemmender Substanzen dienen. Denn: "Wenn man spezifische FAAH-Inhibitoren, also FAAH hemmende Substanzen, entwickeln könnte, dann könnte man Schmerz bekämpfen, ohne die bisherigen Nebenwirkungen gängiger Schmerzmittel in Kauf nehmen zu müssen", sagt Benjamin Cravett vom The Scripps Research Institute (TSRI).

Er und sein Kollege Raymond Stevens vom Department of Molecular Biology and Chemistry at TSRI veröffentlichten die Ergebnisse ihrer Entdeckung in dem Fachjournal "Science".
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Der Artikel ist unter dem Titel "Structural Adaptations in a Membrane Enzyme that Terminates Endocannabinoid Signaling" in der aktuellen Ausgabe von "Science" erschienen.
->   Der Artikel in "Science" (kostenpflichtig)
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Modernes Schmerzmanagement
Seit der Zeit des Hippocrates sind Mediziner auf der Suche nach Stoffen, die Schmerzen ohne Nebenwirkungen lindern können. Bisher mit nicht allzu großem Erfolg, denn jedes bekannte Analgetikum, von Opiaten bis zur Elektrotherapie, zeigt mehr oder weniger unerwünschte Nebenwirkungen.

Hier liegt auch die große Herausforderung eines modernen Schmerzmanagements: Welche Methoden, welche Dosierungen sollen eingesetzt werden, um die fragile Balance zwischen erträglichen Schmerzen, Schmerzfreiheit und gesundheitsschädigenden Nebenwirkungen zu halten?
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Unerwünschte Nebenwirkungen
Vor allem bei opioidhaltigen Schmerzmitteln ist mit Benommenheit, Müdigkeit und Übelkeit in der Anfangsphase der Behandlung zu rechnen. Als seltene, aber potenziell gefährlichste Nebenwirkung gilt die Atemlähmung. Besondere Vorsicht ist bei Patienten geboten, die aufgrund bestehender Erkrankungen, z.B. einem Emphysem, einen eingeschränkten Atemantrieb aufweisen.
Die häufigste Nebenwirkung bei Daueranwendung von Opioidanalgetika ist die Verstopfung. Opioide erhöhen an der Harnblase den Widerstand des Schließmuskels und unterdrücken zugleich das Gefühl des Harndrangs, so dass - insbesondere bei älteren männlichen Patienten mit vergrößerter Prostata - die Gefahr einer Blasenüberfüllung (Harnverhaltung) besteht.

Als Nebenwirkungen besonderer Art physische und psychische Abhängigkeit aufzufassen, welche sich nicht nach einmaliger Gabe, sondern erst bei wiederholter Anwendung von Analgetika entwickeln können.
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Umstrittene Substanz - THC
Die wahrscheinlich umstrittenstes Substanz der Schmerzbehandlung ist Delta-9-Tetrahydrocannabinol, kurz THC, der aktive Wirkstoff in Marihuana. THC ahmt die Wirkung natürlicher Cannabinoide nach, die der Körper als Reaktion auf Schmerzstimuli produziert

Durch die Bindung an so genannte CB1-Rezeptoren, die in Zellen einer bestimmten Region des Rückenmarks vorkommen, erreicht THC seine schmerzmindernde Wirkung. Denn bei dieser Region des Rückenmarks handelt es sich um ein schmerzregelndes Zentrum, in dem die Schmerzempfindlichkeit gesteuert wird.
THC beeinflusst alle Gehirnregionen
Leider kommen die Rezeptoren, an denen sich THC bindet, auch in anderen Teilen des Gehirns vor, wie z. B. im Gedächtnis und im Informationsaufbereitungszentrum des Hippokampus. Durch dieses Andocken an Nervenzellen des Hippokampus entstehen eine Reihe von Nebenwirkungen des THCs.

So werden z. B. auch Signalwege der CB-1-Rezeptoren aktiviert, deren Aktivierung zu Desorientierung, Problemen der Wahrnehmung, Verlust der koordinativen Fähigkeiten sowie beschleunigtem Herzschlag, ansteigendem Blutdruck, Angstzuständen und Panikattacken führen kann.
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Wege des Schmerzes
Die Weiterleitung von Schmerzimpulsen aus den Nervenfasern erfolgt über Schmerzbahnen. Diese Schmerzbahnen verlaufen im Rückenmark in Richtung Hirnstamm. Die Nervenfasern aus den unterschiedlichen Körperbereichen, die Schmerzinformationen weiterleiten, enden an speziellen Nervenzellen im Rückenmark. An dieser Stelle übertragen die Nervenfasern die Schmerzimpulse an die Schmerzbahnen.
Die Stationen des Schmerzes sind:
Rückenmark
Hirnstamm, hier vereinigen sich die Schmerzbahnen aus dem Rückenmark mit den Schmerzbahnen des Kopfbereiches. Zusammen laufen sie dann weiter in Richtung Großhirn.
Thalamus, hier werden die Impulse verarbeitet und weitergeleitet zum Endhirn, zum Hypothalamus und zur Hypophyse.
Das Limbische System ist ein Teil des Gehirns, das emotionale Reaktionen wie Wut und Lust auslösen kann und das die Funktionen von Herz, Darm und Gallenblase beeinflusst. Hier werden die Schmerzinformationen qualitativ bewertet und ihnen eine Bedeutung gegeben
Die Großhirnrinde ist für die Bewusstwerdung des Schmerzes verantwortlich. Sie lokalisiert den Schmerz und bewertet ihn quantitativ. Dann werden von hier Maßnahmen gestartet, die den Schmerz beseitigen sollen.
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Forcieren der körpereigenen, schmerzhemmenden Stoffe
Die Herausforderung bei der Anwendung von THC und anderen Cannabinoiden ist es, einen Weg zu finden, sie so einzusetzen, dass es zu einer effektiven, lang anhaltenden Schmerzbefreiung kommt, ohne schädliche Nebenwirkungen.

Cravatt und Stevens scheinen dieser Anwendungsmöglichkeit näher gekommen zu sein. Die Lösung scheint in einer Steigerung der Wirksamkeit der natürlichen, endogenen Cannabinoide - so genannte Endocannabinoide - zu liegen. Diese Endocannabinoide werden vom Körper als Antwort auf Schmerzempfindungen produziert, um diese zu lindern.
Je schneller der Abbau erfolgt, umso geringer die Wirkung
"Wenn du Schmerz spürst, werden Endocannabinoide freigesetzt. Die Dauer und Stärke ihrer schmerzlindernden Wirkung wird durch die Schnelligkeit, mit der sie abgebaut werden, reguliert", sagt Cravatt.

Vor allem ein spezielles endogene Cannabinoid, das so genannte Anandamid, wird vom Körper zur Schmerzbekämpfung freigesetzt. "Anandamide bekämpfen den Schmerz, indem sie an CB-1 binden und so die Übertragung des Schmerzsignals blockieren. Sie erklären sozusagen das Schmerzsignal für ungültig", erklärt Cravatt.

"Leider ist dieser Effekt nur sehr kurz, da FAAH die Anandamide sehr schnell umwandelt - der Wirkstoff hat eine Halbwertszeit von wenigen Minuten in vivo."
FAAH-Hemmung verlängert schmerzstillende Wirkung
THC hingegen scheint Anandamiden als Schmerzmittel zwar überlegen zu sein, weil es von FAAH nicht so leicht umgewandelt werden kann. Da THC aber die Aktivität der Cannabinoid-Rezeptoren im gesamten Körper unterdrückt, ist es für die Entwicklung in der Schmerztherapie allerdings nur mäßig interessant, meinen die Wissenschaftler.

FAAH scheint ein weitaus lohnenderes Ziel für die Entwicklung einer neuen Schmerztherapie zu sein. Denn durch die gezielte Hemmung von FAAH würde die Lebensdauer der Anandamide erheblich verlängert werden. Dadurch könnte Schmerzfreiheit durch körpereigene Substanzen erzeugt werden.
Vorlage für neue Schmerzmittel
Die entschlüsselte Struktur des FAAH-Enzyms soll als Vorlage für die Entwicklung von spezifischen Inhibitatoren dienen. Diese Substanzen sollen in Zukunft die Aktivität des FAAHs kontrollieren und vermindern, wenn der Körper Schmerzsignale aussendet und Anandamide ausschüttet.
->   The Scripps Research Institute
->   Cannabinoide und Endocannabinoide
->   Enzyme
->   Mehr Geschichten über Schmerz in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010